Wir dürfen Syriens Verschwundene nicht vergessen

Nach wie vor sitzen Hunderttausende in Syriens Kerkern oder gelten als verschwunden. Dieser Tage erreichen uns vermehrt Meldungen über getötete Gefangene. Folter und Mord dauern an. Ob es jemals für diese Taten Gerechtigkeit gibt, ist unklar – auch weil Internationale Organisationen zu wenig zur Aufklärung beitragen.

“Sie haben meinen Liebling ermordet, meinen Ehemann, meinen Niraz – sie haben dich getötet, mein Herz“ — am Montag erfuhr die Ehefrau des Fotografen Niraz Saied von dessen Tod in einem Gefängnis des Assad-Regimes. Dort war er seit 2015 festgehalten worden. Zuvor hatte er den harten Alltag im belagerten Damaszener Viertel Yarmouk dokumentiert. Saied war nur 27 Jahre alt. Ein weiteres junges Leben ausgelöscht in syrischen Gefängnissen.

Bis zu 200.000 Menschen sind syrischen Menschenrechtsorganisationen zufolge inhaftiert oder gelten als verschwunden. Abertausende wurden bereits zu Tode gefoltert, exekutiert oder gingen an den unmenschlichen Haftbedingungen zugrunde.

In den letzten Monaten erhielten viele Syrerinnen und Syrer traurige Gewissheit über den Tod ihrer in Assads Gefängnissen festgehaltenen Liebsten: Hunderte wurden offiziell für tot erklärt. Offiziell Todesursache in den meisten Fällen: Herzversagen. Nicht selten sind die Gefangenen schon vor Jahren gestorben, wenn die syrischen Behörden endlich die Zivilregister aktualisierten oder Totenscheine verschickten. Als die Ehefrau des syrisch-palästinensischen Aktivisten Bassel Khartabil, die Menschenrechtsanwältin Noura Ghazi, von dessen Tod erfuhr, war dieser schon zwei Jahre zuvor hingerichtet worden.

Alle Fraktionen ließen Menschen verschwinden

Dabei geht es nicht nur um jene in den Händen des Regimes. Auch Rebellen ließen Menschen verschwinden, folterten sie zu Tode. Das Schicksal vieler dieser Verschwundenen wird wohl niemals aufgeklärt werden können: Die oppositionelle Anwältin (und Partnerin von Adopt a Revolution) Razan Zeitouneh wurde etwa 2013 mit mehreren Mitstreitern von Jaysh al-Islam verschleppt — seitdem galt sie als verschwunden. Lange vermuteten Angehörige sie im Frauengefängnis von Douma. Obwohl das Regime allein aus propagandistischen Gründen jedes Interesse daran haben müsste, Verbrechen der Rebellenmilizen auszuschlachten, fehlt auch nach der Einnahme der Stadt durch das Assad-Regime jede Spur.

Auch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ ließ Tausende verschwinden — über das Schicksal dieser Menschen ist kaum etwas bekannt. Als die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) Raqqa einnahmen, die „Hauptstadt“ der Dschihadisten, fanden sie die Gefängnisse leer vor. Viele wurden wohl schon längst exekutiert, andere während der Schlacht um die Stadt als menschliche Schutzschilde missbraucht. Wieder andere zum gleichen Zweck weiter gen Osten in die Wüste verschleppt. Viele IS-Dokumente, die Aufschluss geben könnten, wurden vernichtet. Mit den Überbleibseln setzt sich kaum jemand auseinander. Und so warten viele Angehörige und Freunde der Vermissten weiter auf Aufklärung. In den Massengräbern und Trümmern der Stadt mischen sich die Opfer der Dschihadisten mit IS-Kämpfern und jenen, die durch die Luftangriffe der internationalen Anti-IS-Koalition getötet wurden.

Mitglieder des Zivilschutzes von Raqqa suchen nach Leichen in den Trümmern eines Hauses. Foto: Jan-Niklas Kniewel

Internationale Organisationen schrecken vor der Unterstützung lokaler Behörden zurück

„Die lokale Behörden kämpfen mit der logistischen Herausforderungen, Informationen über die geborgenen Leichen zu sammeln und zu kategorisieren“, notiert etwa Human Rights Watch in einem neuen Bericht. Den Behörden fehlt es schlicht an Experten und finanziellen Mitteln: Technische Instrumente wie DNS-Analysen stehen den Behörden, insbesondere in den “oppositionellen” Landesteilen, somit gar nicht zur Verfügung, oft muss eine Zahnfüllung oder ein Schmuckstück zur Identifikation dienen. Gibt es so etwas nicht, bleibt der Tote namenlos. Die Identifikation der Opfer wird häufig von dafür nicht ausgebildeten Allgemeinmedizinern geleistet. Human Rights Watch kritisiert, dass viele internationale Organisationen nicht die Hilfe leisten, die sie leisten könnten, weil sie fürchten, dass Unterstützung für die nordsyrischen Behörden ihnen Probleme mit der Türkei und dem Assad-Regime einbringen könnte. Doch dieser Mangel an Aufklärung, so warnt die Organisation, hat weitreichende Auswirkungen auf die mögliche Strafverfolgung der Kriegsverbrecher. Die wenigen Informationen, die die Behörden ermitteln, erreichen zudem die Angehörigen oft nicht. Auch verschleppte der IS Menschen aus dem ganzen Land nach Raqqa — so etwa die Aleppiner Aktivistin Samar Saleh. Kaum vorstellbar, dass ihre Angehörige jemals Gewissheit finden werden.

Doch diese ist wichtig. Unzählige in Syrien sehnen sich danach, endlich zu erfahren, was mit ihren Liebsten geschah. Und viele von ihnen wollen Gerechtigkeit, wollen, dass die Täter bestraft werden. Internationale Organisationen sollten alles daran setzen, sie dabei zu unterstützen.

Adopt a Revolution unterstützt Initiativen der syrischen Zivilgesellschaft, die sich für Aufklärung und Gerechtigkeit einsetzen, etwa die “Human Rights Guardians”. Landesweit recherchieren sie nach Inhaftierten und Verschwundenen und teilen ihre Informationen mit den Vereinten Nationen. Helfen Sie mit, unterstützen Sie diese wichtige Aufklärungsarbeit mit Ihrer Spende!

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