Anschläge auf Paris: Wie SyrerInnen darauf reagieren

Die Welt war schockiert, als am Freitag sieben Angreifer in ruhigem und methodischen Vorgehen zuerst Zivilisten erschossen und danach ihre Sprengstoffgürtel in Pariser Bars, Restaurants, einer Konzerthalle und dem Stade de France, dem zentralen Sportstadium des Landes, zündeten. ISIS bekannte sich kurz darauf öffentlich mit Audiokommentaren auf Arabisch, Englisch und Französisch zu den Anschlägen, in […]

Die Welt war schockiert, als am Freitag sieben Angreifer in ruhigem und methodischen Vorgehen zuerst Zivilisten erschossen und danach ihre Sprengstoffgürtel in Pariser Bars, Restaurants, einer Konzerthalle und dem Stade de France, dem zentralen Sportstadium des Landes, zündeten. ISIS bekannte sich kurz darauf öffentlich mit Audiokommentaren auf Arabisch, Englisch und Französisch zu den Anschlägen, in denen sie davor warnten, dass diese Angriffe nur “der Beginn eines Sturms” seien und Paris als “Hauptstadt der Prostitution und Obszönität” bezeichneten.

Heute gab der französische Premierminister Manuel Valls bekannt, dass die islamistischen Militanten die Angriffe am Freitag von Syrien aus organisiert hatten, und dass erneute Terroranschläge in Frankreich und anderen europäischen Ländern geplant seien. Frankreichs Reaktion auf das Blutbad war, noch mehr ISIS Ziele in der syrischen Provinz Raqqa anzugreifen – vermutlich mit wenig Beachtung ziviler Opfer.

Aber sind wut- und schockgesteuerte Racheangriffe der richtige Weg, die sich ausbreitende ISIS-Bedrohung zu eliminieren? Wo kommt das Assad-Regime darin vor, das Syrien durch seine Taktik der verbrannten Erde (“Scorched Earth Policy”) destabilisiert hat?
Und – noch wichtiger – werden syrische Geflüchtete, die versuchen sicherere Gebiete zu erreichen, den hohen Preis für die Aktionen genau dieser ISIS Kämpfer zahlen müssen, vor denen sie geflohen sind?

Hier ist eine Zusammenfassung der aussagekräftigsten Reaktionen von SyrerInnen auf die grausamen Pariser Selbstmordattentäter:

Douma

Zivilisten aus der syrischen Stadt Douma, die seit mehr als zweieinhalb Jahren unter der erstickenden Belagerung des Assad Regimes leiden, und die bis heute eine Vielzahl von Massakern – darunter Anschläge mit Chemiewaffen – miterlebt haben, hielten eine Totenwache mit Kerzen ab, in der sie ihre Solidarität mit den Opfern der Pariser Angriffe ausdrückten.

Die Einwohner Doumas waren erst im letzten Monat selbst Opfer eines grausamen Massakers, bei dem die Luftwaffe des Regimes einen Marktplatz bombardierte und dabei mindestens 70 Menschen tötete und weitere 550 verletzte.

Am 16. August 2015 wurde ein noch grauenhafteres Massaker vom Regime verübt, bei dem 96 Menschen getötet und mindestens 200 verletzt wurden.
Traurigerweise sind die Einwohner von Douma diese Gewalt gewöhnt. Zusätzlich zur Belagerung, durch die die Bevölkerung von Nahrung und den grundlegenden Lebensmitteln abgeschnitten ist, haben die Einwohner von Douma mit ständigen Fassbombenangriffen zu kämpfen.
Wenn also irgendjemand versteht, was Paris gerade aushalten muss, dann sind es die hungernden, erschöpften, traumatisierten Einwohner Doumas.

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Besorgt über die unausweichlichen Folgen für syrische Geflüchtete postete Karam Nachar, ein syrischer Professor und Autor, Folgendes auf facebook:

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“Wisst ihr, was mir ‘auch’ das Herz bricht? Der Schrecken, der sich unter syrischen Geflüchteten in Europa darüber ausbreitet, was ihnen in den nächsten Tagen zustoßen könnte. ‘Sprich kein Arabisch auf der Straße’, ‘wenn du ein Kopftuch trägst, bleibe lieber zu Hause’, ‘gib dich höflich und dankbar’, ‘sei nicht laut und auffällig’, so warnen sie sich gegenseitig in den Korridoren dieses blauen Universums. Keine Ruhe vor dem Bösen, wie es aussieht, keine Ruhe für SyrerInnen, wo auch immer sie hingehen.”

Sirin Hamsho drückte ähnliche Sorgen über die Folgen für Geflüchtete aus. Sie schrieb auf französisch:

“Ich kenne nicht einen einzigen Syrer, der nicht tief betrübt über die Pariser Anschläge wäre… Wahrscheinlich, weil SyrerInnen hinsichtlich der Tatsache, dass sie selbst am meisten von der Existenz ISIS’ und des totalitären Regimes betroffen sind, sehr gut verstehen, was Tod und Verlust bedeuten.
Meine Trauer hat zwei Ursachen: Ich trauere zum Einen um die unschuldigen Opfer in Paris, und zum Anderen mache ich mir Sorgen um die syrischen Geflüchteten, die hinsichtlich der Anschläge die größten Verlierer sein werden.
Heute ist das syrische Regime der größte Nutznießer dieser Terroranschläge, die in einem Land verübt wurden, das durchgehend das syrische Volk unterstützt hat. Wenn die freie Welt nicht bald die wahre Ursache des Terrors in Syrien (das Assad Regime) bekämpft, wird diese Tragödie sich ausweiten, bis jeder Einzelne davon betroffen ist.
Mein Mitgefühl geht an die französische Opfer, an meine Familie und meine Freunde. Und mein besonderes Mitgefühl geht an die Geflüchteten, die der Unterdrückung des Assad Regimes und ISIS entkommen sind, und die Zeit wird zeigen, dass sie die größten Opfer dieser Tragödie sind.”

Nader Atassi, ein weiterer Syrer, der im Ausland lebt, schrieb auf facebook, dass ISIS mit dieser Art von Anschlägen ihre Geschichte des “Kollaps der Zivilisation” weitererzählen und einen tieferen Keil zwischen den Westen und den Muslimen weltweit treiben möchten:

Nader-Atassi

“Angriffe wie heute Abend in Paris werden absichtlich auch deswegen verübt, um eine islamophobe Gegenreaktion auszulösen. Diese Gegenreaktion ist keine zufällige Konsequenz solcher Angriffe, sie ist Teil der Logik. ISIS-Anhänger wollen eine islamophobe Reaktion, denn dies bestätigt sie in ihrem Glauben, dass es einen Krieg zwischen dem Westen und dem Islam gäbe. Indem sie die fremdenfeindliche Rechte in Europa stärken und ermutigen, bestätigen sie auch ihre eigene Sicht auf die Welt. Und die tragische Ironie dabei ist, dass diese Gegenreaktion Geflüchtete treffen könnte, die selbst vor dem Terror der ISIS-Herrschaft geflohen sind.

Meine Gedanken heute Abend sind bei allen Menschen in Paris. Auf dass die Kräfte, die einen apokalyptischen ‘Krieg der Zivilisationen’ erzeugen wollen, besiegt werden.”

Amro Ali, ein Doktorand der University of Sydney, erinnerte die Welt daran, dass diese Art der Terroranschläge ihre Wurzeln im Chaos von Syrien haben, das von Assads Entscheidung ausgelöst wurde, den friedlichen Aufstand niederzuschlagen:

Amro-Ali

“Stellt euch vor, als Bashar Al-Assad Anfang 2011 mit dem Aufstand konfrontiert wurde, hätte er weise zurücktreten, einen demokratischen Übergang oder eine Aufteilung der Macht erwirken können. Stattdessen erklärte er seinem eigenen Volk den Krieg, verursachte eine der größten Flüchtlingswellen der modernen Geschichte, legte das Fundament für die Radikalisierung, brachte indirekt ISIS hervor, verlor die Hälfte seines Territoriums an ISIS, tötete hunderte und tausende SyrerInnen, verlor Jahrhunderte altes kulturelles Erbe, verlor seine interne Legitimität, öffnete seine Regierung für den Eingriff Russlands und Irans (und den Golfmonarchien, die seine Gegner ausgebeutet und unterstützt haben).
Ganz zu schweigen von den neuesten Terroranschlägen, nicht ursprünglich natürlich, aber das Blutvergießen in Ankara, Sinai, Beirut und Paris hat eine Spur, die teilweise in das Chaos Syriens zurückführt.
Es hätte alles so anders laufen können, und all diese Herzschmerzen und Qualen wofür? Weil Assad sich nicht überwinden konnte, sich zu Beginn des Arabischen Frühlings zumindest mit den Anführern der Proteste und den Bürgern an einen Tisch zu setzen. Nein, er konnte einfach nicht. Es war unter seiner Würde. Das bedeutet, Macht und Privilegien sind so vergiftend, dass man glauben könnte, der Kollaps einer Zivilisation sei es wert.”

Der Originalbeitrag erschien am 16.11.15 auf Planetsyria.

Noch immer fliehen hunderte und tausende SyrerInnen vor dem Terror des IS und des Assad-Regimes in ihrem Land. Friedliche zivilgesellschaftliche Projekte bilden auch im größten Chaos ein kleines Fundament einer zukünftigen demokratischen Gesellschaft – und eine Chance, zu bleiben. Helfen Sie mit und unterstützen Sie unsere ProjektpartnerInnen vor Ort jetzt mit ihrer Spende!

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Herzlichen Dank!