Syrian Visions: Die Zivilgesellschaft lebt

Vor ausverkauftem Saal veranstaltete Adopt a Revolution am Donnerstagabend im Heimathafen Neukölln eine Podiumsdiskussion zwischen den renommierten Journalisten Mazen Darwish und Nicolas Hénin. Ein vielfältiges Kulturprogramm mit syrischen Kurzfilmen sowie der Musik von Ayham Ahmad bot weitere Einblicke in den kreativen Widerstand. Ob es denn überhaupt noch eine Revolution in Syrien gebe, wollte ein Zuschauer […]

Vor ausverkauftem Saal veranstaltete Adopt a Revolution am Donnerstagabend im Heimathafen Neukölln eine Podiumsdiskussion zwischen den renommierten Journalisten Mazen Darwish und Nicolas Hénin. Ein vielfältiges Kulturprogramm mit syrischen Kurzfilmen sowie der Musik von Ayham Ahmad bot weitere Einblicke in den kreativen Widerstand.

Ob es denn überhaupt noch eine Revolution in Syrien gebe, wollte ein Zuschauer von den Podiumsgästen wissen. Der französische Journalist Nicolas Hénin musste über diese Frage nicht lange nachzudenken. Auch wenn sie vom Bürgerkrieg, den regionalen Machtkämpfen und der internationalen Intervention verdeckt worden sei, so gebe es die Revolution noch immer. Der syrische Aktivist und Journalist Mazen Darwish pflichtete ihm bei.

Der Saal des Heimathafen Neukölln war am Donnerstag ausverkauft. Foto: Anja Pietsch
Der Saal des Heimathafen Neukölln war am Donnerstag ausverkauft. Foto: Anja Pietsch

Mehr als fünf Jahre liegt der Beginn des Aufstands gegen die Assad-Diktatur in Syrien nun schon zurück. Es sind fast nur noch die Schreckensmeldungen, die nach draußen dringen. Adopt a Revolution hingegen versprach für diesen Donnerstagabend Einblicke in die vergessene Revolution. Gut 330 BesucherInnen folgten der Einladung – damit war der Saal des Heimathafen Neukölln ausverkauft. Die syrische Zivilgesellschaft lebt. Die Arbeit der mutigen SyrerInnen, die inmitten des Krieges die Bedingungen für eine friedliche und demokratische Gesellschaft schaffen, geht weiter, aller Repression durch Assad-Diktatur und Islamisten zum Trotz. Das zu betonen war eines der Anliegen dieses Abends. Mitbegründer Ferdinand Dürr, nannte in seiner Keynote einige der mutigen zivilgesellschaftlichen Projekte, die Adopt a Revolution unterstützt. Die Schulen in Erbin etwa, die gegründet wurden, um die Bildung der syrischen Jugend nicht erzkonservativen, aus den Golfstaaten finanzierten Gruppen zu überlassen. Schulen, in denen auf Religionsunterricht bewusst verzichtet wird.

„Assad ist gut darin, Fallen zu stellen“
Es sind Projekte wie dieses, die Hoffnung machen, zeigen, was möglich ist, wenn das Feld nicht den Golfstaaten oder der Türkei überlassen wird. Das betonte auch Nicolas Hénin, der zehn Monate als Geisel der Terrororganisation IS überlebte. Der französische Journalist bemüht sich um Aufklärung, viele Male hat er aus Syrien und dem Irak berichtet, hat die friedlichen Anfänge der Revolution ebenso erlebt, wie das Aufkommen der Radikalen und die Militarisierung.

Der französische Journalist Nicolas Hénin. Foto: Anja Pietsch
Der französische Journalist Nicolas Hénin. Foto: Anja Pietsch

Auf dem Podium lieferte Hénin pointierte Einblicke in den Konflikt und betonte den Charakter des Stellvertreterkriegs. Die SyrerInnen hätten kaum noch eine Möglichkeit, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. „Syrien ist ein leeres Feld, weit offen für allerlei Interessen“, sagte Hénin. Dieser Konflikt sei nicht wie all die anderen, die man in den letzten Jahrzehnten im Mittleren Osten gesehen habe. Er sei ein game changer, der das Potenzial habe, die Grenzen der Region neu zu zeichnen. Und eben weil so viel auf dem Spiel stehe, mischten alle mit. Es sei wie in einem großen Casino, in dem niemand seinem Gegenüber den kleinsten Gewinn gönne. Und zwischen den Fronten stehe die Zivilgesellschaft. Eine Zivilgesellschaft, die man im Stich gelassen habe, als sie für Freiheit, Demokratie und Grundrechte auf die Straße gegangen war, wie Hénin kritisierte.

„Das Assad-Regime ist smart“, erklärte er im Heimathafen. „Es kennt die Bevölkerung und weiß, wie die internationale Gemeinschaft arbeitet. Es ist gut darin, Fallen zu stellen. Unglücklicherweise sind wir sehr gut darin, in jede einzelne dieser Fallen zu tappen.“

Der syrische Journalist Mazen Darwish klärte über die Methoden des Assad-Regimes auf. Foto: Anja Pietsch
Der syrische Journalist Mazen Darwish klärte über die Methoden des Assad-Regimes auf. Foto: Anja Pietsch

Auf die Methoden des Regimes ging auch Mazen Darwish ein, der schon 2004 das „Zentrum für Medien und Meinungsfreiheit“ in Damaskus gegründet hatte und viele Male vom Regime verhaftet worden war. Er führte aus, wie das Regime die Konfessionalisierung des Konflikts befeuerte, wie es mit dem Beginn der Revolution hunderte Islamisten aus den Gefängnissen entließ. Darunter Zahran Alloush, den im Dezember 2015 getöteten Anführer der islamistischen Miliz Jaysh al-Islam (Armee des Islam), dem die Verschleppung der berühmten Demokratieaktivistin Razan Zaitouneh zur Last gelegt wird. Auch Darwish betont: „Wir haben heute über die Aktivisten in Erbin gesprochen, und es gibt viele andere Beispiele für Aktivisten, die weiterhin ihr Bestes geben, um die ursprünglichen Prinzipien der Revolution zu bewahren.“

Ein Zerfall des ethischen Systems
Als die Frage im Raum steht, ob die SyrerInnen einfach nicht bereit für Demokratie wären, wirft Darwish ein: „Pinochet war nicht aus Aleppo, Franco nicht aus Homs und Hitler nicht aus Damaskus.“ Auch viele der westlichen Demokratien seien noch vor nicht allzu langer Zeit Diktaturen gewesen und ihre Demokratisierung ein langer Prozess. Darwish beunruhigt der Zerfall des ethischen Systems rund um die Welt. Alles wofür man so lange gekämpft habe, Menschenrechte und Demokratie, drohe zu kollabieren.

Ayham Ahmad während seines Konzerts. Foto: Anja Pietsch
Ayham Ahmad während seines Konzerts. Foto: Anja Pietsch

Es sei die Struktur des Staates, die darüber entscheide, ob der Fortschritt zur Demokratie möglich ist. Der Staat müsse die Grundrechte versichern können. Wenn nur die Gewalt aufhören würde, so könne die Zivilgesellschaft wieder erwachsen. Das habe man schon während des jüngsten Waffenstillstandes gesehen, der zu einem Wiedererstarken des friedlichen Protests führte.

Als das Gespräch verklungen war, zog es Ayham Ahmad, den „Pianisten von Yarmouk“, mit seinem Flügel auf die Bühne. Wehklagend und doch nicht ohne Zuversicht sang Ahmad ungeheuer eindringlich von Vertreibung und dem Leben in Yarmouk, dem beschossenen und belagerten Vorort von Damaskus, in dessen zertrümmerten Straßen er einst Klavier spielte. Immer wieder unterbrach er sein Konzert durch kurze Ansprachen, in denen er nach dem Grund für das Leid fragte, das die Syrerinnen und Syrer heimgesucht hatte. Manch einen Zuhörer rührte Ahmads kraftvoller Auftritt zu Tränen.

Nicolas Hénin und Mazen Darwish haben die Bedeutung der Zivilgesellschaft für eine friedliche Zukunft für Syrien herausgestellt. Unterstützen auch Sie die mutigen AktivistInnen, die sich Tag für Tag gegen Diktatur und Dschihadismus engagieren!

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Die Veranstaltung wurde mit freundlicher Unterstützung der Rosa Luxemburg Stiftung, des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, des Katholischen Fonds und der Stiftung :do realisiert.