Stimmen aus Ghouta: »Wir hatten einen Traum«

Die Lage in Ost-Ghouta spitzt sich weiter zu. Das Assad-Regime und Russland ignorieren eine am 24. Februar vom Weltsicherheitsrat beschlossene Waffenruhe – noch immer haben keine Hilfsgüter die belagerten Damaszener Vororte erreicht, das Bombardement geht weiter und die östliche Front kollabiert.

Eigentlich hätten die Waffen in Ost-Ghouta seit über einer Woche schweigen sollen – so wollte es eine Resolution des UN-Sicherheitsrats. Doch stattdessen geht der Krieg um die Rebellenenklave einfach weiter. Auch die in der Resolution versprochenen Hilfsgüter erreichen das Gebiet nicht. Stattdessen behauptet Russland Evakuierungskorridore eingerichtet zu haben und dass die Waffen zwischen 9 und 14 Uhr schweigen würden. Doch schon am ersten Tag berichtete uns der Medienaktivist Fadi, dass dennoch Bomben gefallen seien: “In dieser Zeit gab es hier fünf Tote.” Die UN kritisiert die russische Initiative zudem als Feigenblatt, die es nicht ermögliche, die humanitäre Lage im Kessel von Ghouta tatsächlich zu lindern.

Stattdessen kollabierte am Samstag die östliche Front mit dem Ergebnis, dass das Assad-Regime rund zehn Prozent der Enklave erobern konnte. Zu dieser Stunde verhandeln Rebellen und Regime einen möglichen Abzug der Aufständischen aus Misraba – dies würde zu einer Teilung der Ost-Ghouta führen, womit der Fall der Region so gut wie besiegelt wäre. Aktivisten berichten von zahlreichen Binnenflüchtlingen. “Die Situation wird immer katastrophaler”, sagt Nader, ein Lehrer. “Die Gebiete rund um die Front im Osten werden pausenlos bombardiert, wir wissen nicht genau, bis wohin das Regime bis jetzt vorgestoßen ist. Die Zivilisten hier haben riesige Angst, ich habe riesige Angst um meine kleine Tochter. Wir sind 24 Stunden am Tag im Keller, wir können den Tag nicht mehr von der Nacht unterscheiden.”

Auch Brandbomben setzen Russland und das Assad-Regime, wie hier in Misraba, ein. Foto: Ghouta Media Center

Viele der rund 350.000 Zivilisten harren wie Nader weiter in Kellern und Bunkern aus, um sich vor den Luftangriffen zu schützen. Dort gibt es meist kaum Nahrung und Wasser und oft auch keine Sanitäranlagen. “Wir sind so erschöpft. Wir haben kein Essen im Keller, wir müssen während der Bombardierungen den Keller verlassen, um irgendwo Gerstenmehl aufzutreiben, damit wir überhaupt irgendwas essen können”, sagt Fadi. “Es gibt hier Leute, die haben zum Teil drei Tage lang gar nichts gegessen.” Nachts bleibt immer einer von ihnen wach, um die Ratten zu vertreiben.

“Ich bin seelisch und körperlich völlig erschöpft, aber ich versuche das den Leuten um mich herum nicht so sehr zu zeigen, mir nichts anmerken zu lassen”, erzählt Eman, eine junge Bildungsaktivistin. “In Wirklichkeit aber bin ich am Ende.”

“Was soll die Lösung sein?”, fragt Nader. “Niemand, insbesondere nicht diejenigen, die aus der Regime-Armee desertiert sind oder für die der Wehrdienst noch ansteht und diejenigen, die im humanitären Bereich in der Ost-Ghouta tätig sind, werden sich dem Regime ausliefern und in dessen Gebiete zurückkehren. Und niemand will nach Idlib gehen.”

Die Frauenrechtlerin Huda leitet ein von Adopt a Revolution unterstütztes Zentrum, das Frauen Rechtsberatung und Weiterbildungsmöglichkeiten anbietet. Auch sie harrt in einem Keller aus. Immer wieder hören wir tagelang nichts von hier, weil es im Keller kein Internet gibt. Um zu schreiben muss sie nach draußen. Heute hat sie uns folgende lange Nachricht geschickt:

“Die Situation ist furchtbar, seit gestern hören die Bombardierungen gar nicht mehr auf, die Armee des Regimes ist weiter vorgerückt. Trotzdem versuchen wir in den Kellern ein paar Aktivitäten für die Kinder zu organisieren und auch ein paar Handarbeitskurse für die Frauen – die Menschen müssen mit irgendwas beschäftigt werden, um sich abzulenken.

Heute habe ich die Leiterin einer unserer Zweigstelle in ihrem Keller getroffen. Sie hilft den Verletzten, reinigt Wunden und leistet Erste Hilfe. Wir haben zusammen geweint, es ist alles rausgekommen was sich in den letzten zwei Wochen angestaut hat. Vor ein paar Wochen starben vier Frauen, als unser Zentrum bombardiert wurde. Heute ist der Ehemann einer dieser Frauen getötet worden. Ihre beiden Kinder sind jetzt Waisen.

Es gibt keine Evakuierungskorridore oder offenen Wege, wie Russland behauptet. Wir können außerdem auf keinen Fall in die Gebiete des Regimes zurückkehren, selbst wenn der Weg dorthin geöffnet wird. Dort erwartet uns der Tod. Das Regime wird sich an den Menschen aus der Ost-Ghouta für ihren jahrelangen Widerstand rächen. Auch in den Norden – wie all die anderen Vertriebenen der letzten Jahre – können wir nicht, denn Idlib wird die nächste Region sein, die Russland und das Regime angreifen. Wie sollen in dieser kleinen Region außerdem 400.000 Menschen unterkommen? Die einzige Lösung wäre, dass uns ein Staat außerhalb Syriens aufnimmt. Aber welcher Staat sollte das sein?

Trotzdem scheint sich die internationale Gemeinschaft schon darauf geeinigt zu haben, dass wir aus Ost-Ghouta verschwinden sollen. Die einzige wahre Lösung wäre gewesen, dass wir in unserem Land bleiben können, in unseren Heimatstädten. Wir hatten einen Traum und wir wollen weiter an diesem Traum arbeiten. Aus dem nichts haben wir hier eine Alternative zum Staat des Assad-Regimes aufgebaut in den letzten Jahren. Wir wollen das nicht aufgeben und wir wollen nicht dazu gezwungen werden, unser Land zu verlassen.”

Weitere Aussagen über das Leben in Ost-Ghouta finden Sie hier.

Dem Grauen zum Trotz: Wir dürfen nicht wegsehen, wenn in Syrien das humanitäre Völkerrecht systematisch gebrochen wird. Adopt a Revolution unterstützt sieben zivile Projekt in Ost-Ghouta. Helfen Sie mit Ihrer Spende, stärken Sie zivile AktivistInnen!

Jetzt spenden!

Herzlichen Dank!