Stimmen aus Daraa: »Rede lieber nicht mehr mit mir«

Noch immer ist nicht klar, wie es für die Menschen in der Region Daraa im Süden Syriens weitergeht. Das Regime und seine iranischen und russischen Verbündeten haben große Teile der einstigen Rebellenhochburg eingenommen, mancherorts gibt es lokale Abkommen, öfters wird trotzdem weiter bombardiert. Die Menschen vor Ort haben vor allem eines: Angst vor dem Assad-Regime.

Wie bei der Eroberung Ost-Aleppos im Dezember 2016 und Ost-Ghoutas im März 2018 gibt es auch im Falle Daraas Abkommen, die ZivilistInnen vor die Wahl stellen: Entweder ihr bleibt in der Region – und seid wieder brave Untertanen des Assad-Regimes, das möglicherweise Rache und Verfolgung üben wird – oder ihr lasst euch in Bussen in die Region Idlib im Norden Syriens abtransportieren. Aber dort harren bereits Hunderttausende Binnenvertriebene unter katastrophalen Bedingungen aus und unter der Herrschaft islamistischer Milizen. Auch in Idlib gibt es regelmäßig Luftangriffe – und früher oder später droht auch dort eine Offensive des Regimes. Wieder also stehen Tausende Menschen vor einer schweren Entscheidung. Wir haben mit unseren zivilen PartnerInnen vor Ort darüber gesprochen – auch wenn wir einige nicht länger erreichen können: Aus Gründen der Sicherheit haben sie bereits alle Kommunikationswege gekappt und etwa auch ihre Facebook-Profile gelöscht.

Abhängig von der Gnade russischer Truppen

»Die Russen haben versprochen, dass uns das Regime nicht auf die Pelle rückt. Aber wir wissen immer noch nicht, was wirklich passieren wird. Es sollte so sein, dass die Bedingungen der Abmachung uns schützen, aber wir wissen nicht einmal, ob diese angewandt werden oder nicht. Alles ist eine Müllhalde voller Versprechen. Das Schicksal ganzer Städte hängt nun von diesen Versprechen ab.« H., ein Partner von Adopt a Revolution aus Daraa.

»Ich werde nicht in den Norden gehen. Ich persönlich kann keinen weiteren Tag mehr weggehen. Viele hoffen, dass die Umstände ruhig werden und wir etwas neues aufbauen können. Alle haben Angst, noch mehr zu verlieren. Acht Jahre Verlust reichen. Was gibt es schon im Norden? Wir wissen nicht, was wir tun sollen, aber klar ist doch, dass der nächste große Krieg im Norden ansteht.« M., ein Partner von Adopt A Revolution aus Daraa.

Zerstörung in Daraa.

»Es gab so viele Informanten des Regimes hier, dass jetzt eine unglaublich Angst vor Rache herrscht. Künftig wird es schwer sein, oppositionelle Arbeit zu leisten. Die Ideen der Revolution werden erst einmal nur in unseren Köpfen weiterleben können. Doch eines Tages wird die Revolution von neuem erwachen, dann aber auf die richtige Art und Weise.“ S., eine Partnerin von Adopt A Revolution aus Daraa.

Verhandlungsmacht Bombenhagel

Nachdem Russland als Vertreter des Regimes zunächst über ein Abkommen für die gesamte Region verhandelt hatte, werden die Städte und Ortschaften nun nach und nach einzeln zur Aufgabe gezwungen. Ein Partner vom zivilen Sila-Zentrum für Zivilgesellschaft berichtet über die Verhandlungen für die 100.000-Einwohnerstadt Nawa:

»Bei Nawa ging der Beschuss auch während der Verhandlungen weiter. Russland hat seinen Vorschlag auf den Tisch gelegt – und als dieser vom Verhandlungskomitee abgelehnt wurde, brachen die russischen Abgesandten die Verhandlungen sofort ab. Dann erlebte die Stadt eine unglaubliche Bombengewalt – und noch in der gleichen Nacht hat das Komitee allen Bedingungen Russlands zugestimmt.«

Dass Vereinbarungen dann oft trotzdem nicht eingehalten werden, berichtet ein weiterer Partner aus der Stadt Jasim:

»Die Syrische Armee ist seit Montag Mittag in Jasim. Entsprechend des Abkommens sollte sie nur die Stadtgrenzen kontrollieren, inzwischen ist sie aber auch in der Stadt präsent. An ihren Checkpoints wurden Menschen geschlagen und erniedrigt, einige wurden verwundet. Auch systematische Plünderungen durch die Armee sind an der Tagesordnung.“

Viele der langjährigen PartnerInnen von Adopt a Revolution sind einschlägig für ihre oppositionellen zivilen Aktivitäten bekannt. Für sie bleibt oft nur die Flucht nach Idlib.

Als Teil der Vereinbarungen zwischen Regime und Aufständischen werden diejenigen in die Provinz Idlib vertrieben, die nicht unter der Herrschaft Assads Leben wollen.

„Ich gehe, das steht zu 99 Prozent fest. Aber wer nicht in den Norden gehen muss, den will ich nicht dazu ermutigen. Alle wissen, wie schlimm die Situation dort ist. Wer bleiben kann, soll bleiben. Diese Vertreibungen sind das Schmerzvollste: Menschen, die hier gebraucht werden, müssen an einen Ort gehen, von dem sie wissen, dass er schlecht und unsicher ist. Aber die Alternativen sind wohl nur Verhaftung, Folter und Tod.“ A. Partner von Adopt a Revolution.

Eine Altbekannte Angst

Für viele AktivistInnen, die bereits zu Beginn der Revolution aktiv waren, kommt nun eine altbekannte Angst zurück. A. sagt:

„Ich kenne die Angst derjenigen, die AktivistInnen der Revolution waren. Am Anfang des Aufstands konnte ich neun Monate lang nicht zu Hause schlafen, weil jederzeit die Polizei oder das Militär kommen konnte, um mich zu verhaften. Nun leben wir wieder in Zeiten der Angst. Lass uns lieber nicht mehr über Facebook kommunizieren, denn die Zeit der Angst ist wieder da.“

Manche unserer PartnerInnen sind bereits schwer zu erreichen, manche AktivistInnen haben ihre Facebook-Accounts gelöscht, damit sie nicht gezwungen werden können, ihre Kommunikation und ihre Aktivitäten der letzten Jahre zu offenbaren. Wir unterstützen diejenigen, die sowohl vom Assad-Regime als auch von radikalen Islamisten verfolgt werden weiter, selbst wenn nur noch die gefährliche – und teure Flucht ins Ausland bleibt. Denn Solidarität endet nicht, wenn ein Projekt vorbei ist. Helfen Sie mit Ihrer Spende mit!

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