Ras al-Ain: “Islamisten wollen hier ein Kriegsgebiet schaffen”

Mitte November bombardierte die syrische Luftwaffe Ras al Ain (kurdisch: Serê Kanîyê). In den letzten Tagen kam es erneut zu Auseinandersetzungen – jetzt zwischen radikalen Islamisten und kurdischen Oppositionellen. In die ethnisch durchmischte Stadt, die vom syrisch-türkischen Grenzzaun geteilt ist, waren waren Bewaffnete der Freien Syrischen Armee vorgedrungen. Der erste Vorstoß im November sorgte wegen […]

Mitte November bombardierte die syrische Luftwaffe Ras al Ain (kurdisch: Serê Kanîyê). In den letzten Tagen kam es erneut zu Auseinandersetzungen – jetzt zwischen radikalen Islamisten und kurdischen Oppositionellen. In die ethnisch durchmischte Stadt, die vom syrisch-türkischen Grenzzaun geteilt ist, waren waren Bewaffnete der Freien Syrischen Armee vorgedrungen. Der erste Vorstoß im November sorgte wegen der heftigen militärischen Reaktion für große Aufregung auch deshalb, weil daran beteiligte islamistische Einheiten angaben, von dort weiter in die kurdischen Gebiete im Nordosten Syriens vorstoßen zu wollen. Die Kurdengebiete, geprägt von einer starken Rolle der Frau in der Gesellschaft und sehr liberalen Vorstellungen des Islams, waren bis dahin nicht von militärischen Kämpfen geprägt und zudem weitgehend unter Selbstkontrolle, nachdem die Kräfte des Regimes sich im Juli 2012 zurückgezogen hatten.

Unmittelbar nach Ausbruch der Eskalation begannen AktivistInnen der umliegenden Komitees, ein Notfall-Zentrum einzurichten. Sie sammelten und verifizierten Informationen, um Gerüchten entgegentreten zu können, versuchten Streitigkeiten zwischen den Ethnien und religiösen Gruppen zu schlichten und koordinierten die Unterbringung und Versorgung der EinwohnerInnen von Ras al Ain (Serê Kanîyê), die nahezu vollständig aus der Stadt flohen.

Inzwischen ist der Waffenstillstand zwischen Islamisten und kurdischen Oppositionellen gebrochen, es kommt zu heftigen Kämpfen. AktivistInnen berichten, die islamistischen Brigaden seien mit drei Panzern über türkisches Gebiet in die Stadt Ras al-Ain eingerückt – offenbar zumindest mit Duldung der türkischen Sicherheitskräfte. Deshalb setzen wir die Unterstützung für das Notfallkomitee wieder auf. Können Sie etwas für die Arbeit des Komitees beitragen, um ethnische und religiöse Spannungen abzubauen?

Jetzt Notfallzentrum unterstützen!

Anfang Januar führten wir mit dem Aktivisten Abu Ahmad ein Interview über die Arbeit des Notfall-Zentrums. Damals bestand der Waffenstillstand noch.

Was ist Dein Hintergrund und was ist der Hintergrund von Ras al Ain?

Ich arbeite hier in Qamishli als Mitglied der Sawa-Koalition, einem Zusammenschluss mehrerer Komitees von jungen AktivistInnen in den kurdischen Gebieten. Dabei konzentriere ich mich auf die Informations- und Medienarbeit. Ich habe aus gleich in den ersten Stunden nach Bekanntwerden der Kämpfe um Serê Kanîyê versucht, so viele Informationen wie möglich zu bekommen und weiterzugeben. Als Kurde nenne ich die Stadt Serê Kanîyê. Im syrischen Teil, der etwa zur Hälfte kurdisch und zur anderen Hälfte arabisch geprägt ist, leben rund 25.000 Menschen. Auf der türkischen Seite des Grenzzauns, der entlang der Eisenbahnlinie quer durch den Ort führt, wohnen noch einmal 45.000 Menschen – in erster Linie ethnische Kurden. Aber in der ganzen Stadt gibt es zahlreiche Religionen: assyrische Christen, Alawiten, sunnitische Muslime und noch einige mehr.

Wie seid ihr in Qamishli auf die Ereignisse in Ras al Ain aufmerksam geworden und was ist eigentlich passiert?

Es war unmöglich nicht mitzubekommen, dass in Serê Kanîyê etwas passiert. Aber es gab lauter Gerüchte und es hat etwas gedauert bis wir rekonstruieren konnten, was passiert ist. Offenbar sind zwei Brigaden, eine islamistische und eine von der Freien Syrischen Armee (FSA) aus der Region um Aleppo in Richtung kurdische Gebiete vorgedrungen. In Serê Kanîyê haben sie dann einen kleinen Polizeiposten und die wenigen Waffen daraus übernommen. Die Polizisten, die noch für das Assad-Regime standen, sind sofort desertiert und haben sich den FSA-Gruppen angeschlossen. Brisant war, dass einige der Kämpfer durch den löchrigen Grenzzaun aus der Türkei gekommen sind, andere direkt von Aleppo auf dem Landweg. Es hält sich daher der Vorwurf, die türkische Regierung wollte die Selbstverwaltung in den kurdischen Gebieten, die vor allem unter Vorherrschaft der PKK-nahen PYD steht, destabilisieren.
Dann kam die Reaktion der syrischen Armee: Über mehrere Tage hinweg bombardierte sie den Ort heftig aus der Luft und griff von einer Artilleriestellung an, die gut 40 Kilometer von der Stadt entfernt liegt. Dabei wurde übrigens immer wieder auch türkisches Gebiet getroffen. Die FSA-Brigade zog sich darauf hin zurück, die andere, eine streng islamistische Gruppe, die sich Guraba al-Sham (in etwa „die Fremden“, AaR) nennen, blieb in der Stadt und kündigte an, weiter in Richtung Osten, nach Amuda und Qamishli, vorzustoßen. Die FSA hat inzwischen erklärt, dass diese Brigade ihr nicht angehört.

Wie hat die Bevölkerung reagiert?

Die Luftangriffe waren heftiger als alles, was in Damaskus stattfindet. Deshalb war die ganze Stadt nach wenigen Tagen leer, es sind eigentlich alle geflohen – in die Türkei oder, als der Grenzzaun dann geschlossen wurde, in die umliegenden Städte. Viele haben anfangs noch gegen die Bewaffneten protestiert, die dann mit Einschüchterung reagierten. Denn zwar war die Mehrheit im Ort gegen das Regime, aber wenn die militärische Reaktion so heftig ausfällt, dann wollten sie doch lieber die wenigen Kräfte des Regimes dulden, die ohnehin keinen Einfluss hatten.

Was war die Reaktion in der Türkei?

Anfangs wurden die Menschen über die Grenze gelassen, später der Zaun aber geschlossen. Das Militär bezog Stellung in Ceylanpinar, wie der türkische Teil der Stadt heißt, hielt sich aber heraus. Als dann später AktivistInnen auf der türkischen Seite der Grenze ein Büro eröffnen wollten, um direkt vor Ort Flüchtlinge unterstützen zu können, wurden sie vom Bürgermeister aufgefordert, davon abzusehen, weil sie keine Genehmigung hatten. Viele Flüchtlinge sind dann auch schnell wieder nach Syrien, als die Kämpfe nachgelassen hatten. Wir haben den Eindruck, dass die Türkei die Islamisten unterstützt, wenn sie gegen Kurden vorgehen.

Und von euch, wie habt ihr reagiert?

Weil mehrere unserer AktivistInnen aus Serê Kanîyê stammen wussten wir, dass Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen drohen: Einige hatten Angst, dass sich die Region in ein Kriegsgebiet verwandelt und wollten deshalb die Islamisten wieder vertreiben. Andere sympathisierten mit ihnen, weil sie hofften, dass jetzt auch die letzten verbliebenen Einheiten des Regimes vertrieben würden. Deshalb haben wir sofort Kontakt mit dem Bürgermeister und mit den einflussreichsten Persönlichkeiten der Gruppen aufgenommen und sie zu einem Dialog überredet. Dazu haben wir MediatorInnen gestellt, die bei Konflikten gerufen werden konnten. Und natürlich haben wir Informationsarbeit geleistet und versucht, die Notlage der betroffenen Menschen zu lindern.

Sind die islamistischen Einheiten jetzt noch in Ras al Ain?

Ja, sie sind noch da. Aber als es zu Auseinandersetzungen zwischen den islamistischen Brigaden und kurdischen Kämpfern kam, die verhindern wollten, dass die Islamisten die Kämpfe auch in die kurdischen Gebiete tragen, haben sich einige Gruppen wieder zurückgezogen. Andere sind noch da, und inzwischen gibt es so etwas wie einen Waffenstillstand. Das Regime greift zwar noch hin und wieder an, aber wir sind froh, dass sich die Lage etwas beruhigt hat.

Warst Du selbst in Ras al Ain vor Ort?

Ich habe es zusammen mit einigen Mitgliedern unseres Komitees, die aus der Stadt kommen, zwei Mal probiert. Das war aber noch am Anfang, als das Regime heftige Luftangriffe flog, so dass wir uns aus Sicherheitsgründen wieder zurückgezogen haben. Mitglieder anderer Komitees, aus Amuda, Derbasiya und Derik, waren dort und einige Aktivisten, die kurz zuvor noch in Damaskus waren meinten, dass die Luftangriffe heftiger waren, als in den Vororten von Damaskus. Und dass es viel Leid gibt!

Welche Unterstützung habt ihr bekommen?

Wir haben technische Unterstützung bekommen: Drei Computer, fünf Telefone und Guthaben für Internet, sowie ein kleines bisschen humanitäre Hilfsgüter. Aber es war unmöglich, Sachen aus der Türkei zu bekommen. Auch das verstärkt noch einmal unseren Eindruck, dass die Türkei gemeinsame Sache mit den Islamisten macht, um die kurdischen Gebiete zu destabilisieren.

Was ist denn aktuell die Situation und wie arbeitet ihr weiter?

Es gibt eine wachsende Ablehnung gegenüber den Islamisten. Aber die scheinen sich festgesetzt zu haben. Zusammenstöße gibt immer wieder kleinere, aber längst nicht mehr so schlimm. Als Notfallzentrum versuchen wir weiter, den Menschen zu helfen, die wieder in ihre Stadt zurück wollen. Außerdem wollen wir den Dialog zwischen kurdischen und arabischen Bewohnern verstärken und auch die verschiedenen Religionsgemeinschaften zu einem Austausch zu bringen. Aus unserer Sicht kann es nicht sein, dass radikale Islamisten ihre Vorstellungen auf alle anderen übertragen wollen und dabei die anderen in Streitigkeiten verfallen. Hier müssen wir etwas tun und wir wollen erreichen, dass es zu Gesprächen kommt, statt zu Kämpfen.

Herzlichen Dank für die Antworten!

Jetzt Notfallzentrum unterstützen!