Presseschau: „Ein grässliches Schweigen“

Über Helfer, denen niemand hilft, die Ignoranz der Diplomaten und die Syrianisierung der Welt. Für Syria Deeply berichtet Zuhour Mahmoud über das World Humanitarian Summit in Istanbul. 23 syrische NGOs waren auf dem von der UN organisierten Gipfeltreffen zugegen, ihr Urteil fällt vernichtend aus. „Wir hören von der UN weiterhin, dass Syrien die größte humanitäre Krise […]

Über Helfer, denen niemand hilft, die Ignoranz der Diplomaten und die Syrianisierung der Welt.

Für Syria Deeply berichtet Zuhour Mahmoud über das World Humanitarian Summit in Istanbul. 23 syrische NGOs waren auf dem von der UN organisierten Gipfeltreffen zugegen, ihr Urteil fällt vernichtend aus. „Wir hören von der UN weiterhin, dass Syrien die größte humanitäre Krise seit dem Zweiten Weltkrieg darstellt. Man würde also davon ausgehen, dass Syrien im Zentrum des ersten humanitären Gipfeltreffens stände, doch es wurde gänzlich vernachlässigt”, kritisiert etwa Assaad al-Achi, Vertreter der syrischen Organisation Baytna Syria. Die anwesenden Spitzenpolitiker hätten sich in erster Linie darauf konzentriert sich gegenseitig für ihre Erfolge zu loben, anstatt die eigenen Fehler zu beleuchten und nach Wegen zu suchen, diese zu korrigieren. Nach mehreren Treffen mit hochrangigen Politikern und Vertretern internationaler Organisationen wird für al-Achi klar, dass die syrischen Delegierten das Gipfeltreffen hätten boykottieren sollen. Die Frauenrechtlerin Maria al-Abdeh stellt außerdem fest: “Wir haben uns daran gewöhnt an Treffen teilzunehmen, deren Organisatoren keine Ahnung davon haben, was in Syrien überhaupt vor sich geht. Doch auf dem World Humanitarian Summit haben wir erstmals seit langer Zeit ein grässliches Schweigen zu Syrien vernommen.”

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Der Lage humanitärer Helfer in Syrien widmet sich auch Reuters. Die US-Nachrichtenagentur beleuchtet die extrem angespannte Situation der verbliebenen Ärzte und Hilfsorganisationen im Land. Zedoun al-Zoubi, Vorsitzender der Union of Medical Care and Relief Organizations, gibt zu Protokoll: „Ein Arzt in Syrien zu sein, bedeutet auf den Tod zu warten. Anstatt Leben zu retten, ist man permanent um das eigene Leben besorgt, weil man das Hauptziel für Luftangriffe ist.“
In diesem Kontext weist der Autor Alex Whiting auf eine Studie der Initiative Local to Global Protection hin, der zufolge syrische Hilfsorganisationen zwar 75 Prozent der humanitären Hilfe in Syrien leisten, aber nur zehn Prozent der Hilfsgelder erhalten. Das Ergebnis ist, dass syrische Organisationen oft nicht einmal die eigenen Kosten decken können, die bei ihrer wichtigen Arbeit vor Ort entstehen.

Die Ergebnisse der Studie. Grafik: Local to Global Protection
Die Ergebnisse der Studie. Grafik: Local to Global Protection

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In der Los Angeles Times erinnert die Kriegsreporterin Janine di Giovanni an die berühmte Pressekonferenz des ehemaligen UN-Generalsekretärs Boutros Ghali im belagerten und beschossenen Sarajevo. Dort stellte sich der Diplomat vor die versammelten Journalisten, erklärte, dass es noch zehn schlimmere Orte auf der Welt als diesen gebe, und bestieg wieder sein Flugzeug. Der Krieg dauerte noch drei weitere Jahre. Dieselbe Ignoranz, dasselbe Desinteresse entdeckt di Giovanni auch bei jenen Diplomaten, die gegenwärtig über Syriens Zukunft verhandeln. „Wie erklären wir den Lebenden, den Überlebenden, den Waisen, denen, die ihre Häuser, ihre Familien und Lebensgrundlage verloren haben, dass wir tatenlos zugesehen haben?“, fragt sie.

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Passend dazu beschäftigt sich Carsten Luther auf Zeit Online damit, wie es um die Luftbrücken für Syrien steht. Diese hatte die Internationalen Unterstützungsgruppe Mitte Mai angekündigt. Ab dem 1. Juni hätten sie Nahrungsmittel und Hilfsgüter in belagerte Gebiete bringen sollen. Doch kein einziger der an der Absichtserklärung beteiligten Staaten will für die Umsetzung in vom Regime abgeschotteten Gebieten sorgen. In eben diesen Städten und Regionen leben jedoch 90 Prozent der belagerten Zivilisten. “Dass zumindest einige Staaten das Risiko eingehen werden, die Hilfe aus der Luft aufzunehmen, sie womöglich zu erzwingen, nachdem die Deadline verstrichen ist – es wäre eine große Überraschung”, konstatiert Luther.

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Über die obszöne Zurschaustellung getöteter feindlicher Kämpfer durch nahezu alle Kriegsparteien in Syrien schreibt der Analyst Haid Haid für NOW Lebanon. Die mit dem Konflikt einhergehende Entmenschlichung habe ein neues Level erreicht, in dem es für viele moralisch akzeptabel geworden sei, den Tod gegnerischer Kämpfer zu feiern. Eine verheerende Entwicklung: Der bewaffnete Konflikt spalte Gemeinden, indem er zwischenmenschliche und gemeinschaftliche Vertrauensverhältnisse untergrabe und die Normen und Werte zerstöre. Doch eben diese hätten zu Kooperation und kollektivem Handeln zum Zwecke des Allgemeinwohls geführt. Mit der Zeit entwickelten verschiedene Gruppen ihre eigenen selektiven Erinnerungen, die „die Anderen“ für das eigene Leid verantwortlich machen und als legitimes Ziel von Gewalt identifizieren. Für Versöhnung und nachhaltigen Frieden brauche es deshalb nicht nur ein Ende der Gewalt, auch das Narrativ und die Denkweise der Leute müssten sich ändern, damit sie ihre Gegner wieder als Menschen mit gleichen Rechten sehen. Doch mit zunehmender Dauer des Konflikts, werde es immer schwieriger, diese Entwicklungen rückgängig zu machen.

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Weil unsere Presseschau eine Zeit lang ausgesetzt hat, sei an dieser Stelle noch auf zwei weitere, etwas länger zurückliegende, aber sehr lesenswerte Stücke hingewiesen:

Yassin al-Haj Saleh konstatierte Anfang Mai in Libération bitter: „Syrien hat sich nicht demokratisiert, es ist die Welt, die sich syrianisiert hat.“
Für das Erstarken des Islamischen Staates macht der syrische Intellektuelle drei Faktoren verantwortlich: Die unermessliche Gewalt des Assad-Regimes, die Abwesenheit ausländischer Unterstützung für die syrische Revolution, etwa in Form einer Flugverbotszone, sowie die Unfähigkeit der syrischen Opposition, eine Vision, ein glaubwürdiges Projekt zu entwickeln. Das Ergebnis sei ein totaler Vertrauensverlust.

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Der New Yorker berichtete im April über geheime Dokumente, die Baschar al-Assad persönlich und direkt mit den massenhaften Menschenrechtsverletzungen in Syrien in Verbindung bringen. Mit dem Aufkommen der regierungskritischen Massenproteste setzte das Regime eine geheime Krisenverwaltungszelle ein, um die Niederschlagung des Widerstands zu koordinieren. Etwaige Beschlüsse wurden Assad vorgelegt, dieser zeichnete sie ab und ergänzte sie teilweise um eigene Anweisungen.

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