»Nicht weniger als eine komplette Reform des Systems!«

In Atareb kämpften mutige AktivistInnen erfolgreich gegen Extremisten. Nun streiten sie für die weitere Demokratisierung ihrer Stadt.

Ihr erster Versuch einer weitreichenden Reform des politischen Systems der Stadt Atareb scheiterte nur knapp – 52 Mitglieder des lokalen Generalkomitees verweigern sich den Veränderungen, 42 sind dafür. „Allein das war schon ein kleiner Erfolg!“, sagt Mohammed, einer der Initiatoren der Reformbewegung und Partner von Adopt a Revolution.

Worum geht es?

Die Geschicke Atarebs leitet wie in vielen oppositionellen Städten ein Lokaler Rat. Dieser wird demokratisch gewählt und fungiert als Stadtverwaltung. Er sorgt für die Wasser- und Stromversorgung, kooperiert mit internationalen Nichtregierungsorganisationen, kümmert sich um Binnenvertriebene. Doch er ist nicht völlig unabhängig in seinen politischen Entscheidungen und das stört viele. Denn seine politische Grundausrichtung wird vom Generalkomitee bestimmt und dieses wird nicht gewählt. Seine Mitglieder rekrutieren sich aus den wichtigen und großen Familien der Stadt. Je größer ein Clan ist, desto mehr Mitglieder entsendet er ins Komitee. In Atareb führt das dazu, das einzelne Familien zu viel Einfluss haben. Eine einzelne Familie stellt gar rund die Hälfte des Komitees. Ein offensichtliches Problem. „Wir müssen uns gegen solche lähmenden traditionellen Strukturen wenden“, sagt Mohammed. „Das ist Teil unserer Revolution.“

Für egalitäre Prinzipien

Und so kam es auf Druck von AktivistInnen zur Abstimmung im Komitee. Die Regelung mit der Familiengröße gegen ein egalitäreres Prinzip. Angesichts der Übermacht dieser einen Familie bedeutet das Wahlergebnis, dass quasi alle Familien gegen die Übermacht der einen aufgestanden sind. Und doch konnte diese den Willen aller anderen torpedieren. So hat die Abstimung auch die Problematik noch einmal verdeutlicht und plötzlich war das Komitee wie gelähmt. Zumindest hatte man sich entschieden, die aktuelle Zahl der Delegierten anhand der Familienstammbücher neu zu berechnen. Doch auch dabei kam es zu neuen Konflikten mit der auf ihre Privilegien pochenden dominierenden größten Familie. Diese war schon immer opportunistisch gewesen und bereits von Assads Ba’ath-Partei stets auf wichtige Posten im Ort gerückt worden.

In diesem komplizierten politischen Klima beschloss der Lokale Rat Neuwahlen für Anfang September anzuberaumen. Und Mohammed und seine MitstreiterInnen haben beschlossen, dies nicht ungenutzt an sich vorbeiziehen zu lassen. Denn die Zeit bis zu den Wahlen werden AktivistInnen nun nutzen, um zu mobilisieren, über die Wichtigkeit des Rates aufzuklären und nötige Reformen auf den Weg zu bringen. So viele zivile Initiativen wie möglich sollen sich ihrer Kampagne anschließen, die sie „Wir können etwas ändern“ getauft haben.

“Es geht darum, dass sich die Leute ihrer Rechte gewahr werden!”

Mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteure haben sie die Situation analysiert und Prinzipien festgelegt, auf denen alle kommenden Reformen beruhen sollen. An diese Prinzipien sollen sich auch die zukünftigen Vertreter des Lokalen Rats halten. „Dabei haben wir zuerst ein Statement erarbeitet, bei dem wir sehr auf die Sprache geachtet haben – wir wollten niemandem mit falschem Radikalismus vor den Kopf stoßen sondern das ganze sehr inklusiv konstruieren“, erklärt Mohammed. „Es geht nicht darum diese eine mächtige Familie zu bekämpfen oder was auch immer – es geht darum, dass sich die Leute ihrer Rechte gewahr werden!“ Kaum hatten sie dieses Statement fertig, schwangen sie sich auf ihre Motorräder und fuhren zu allen den relevanten zivilen Akteuren welche nicht an ihrer Besprechung teilgenommen hatten und warben um deren Unterschriften. Sie erhielten sie alle. Es geht um mehr Rechte für die Bevölkerung, mehr Transparenz, gegen Korruption und für mehr gesellschaftliche Teilhabe von Frauen und Binnenvertriebenen. „Nicht weniger als eine komplette Reform des Systems“, sagt Mohammed, der sich bewusst ist, dass noch ein langer Aushandlungsprozess vor ihnen liegt.

Doch der ist wichtig, denn bei den von ihnen angestrebten Reformen geht es auch um die Wehrhaftigkeit ihrer Stadt: Atareb hat eine lange Geschichte des erfolgreichen Widerstands gegen extremistische Milizen wie Hai’at Tahrir al-Sham (HTS, ehemals Nusra-Front) oder den „Islamischen Staat“. Letzteren vertrieb die lokale Bevölkerung Anfang 2014 – ganz ohne internationalen Beistand. Seitdem erwehrt sich der 30.000-Seelen-Ort immer wieder erfolgreich der Bedrohung durch HTS. Mehrmals standen die Fundamentalisten vor den Toren Atarebs, doch immer wieder schlug die Stadt sie zurück.

Zivilgesellschaft als Bollwerk gegen Extremisten

Insbesondere die starke Zivilgesellschaft und die solide Verwaltung dienen als Bollwerk gegen die Extremisten. Denn oft überrennt HTS Städte nicht einfach militärisch, sondern versuchen sich schleichend mit öffentlichen Dienstleistungen und sonstigen Hilfen eine Basis zu erkaufen und die lokalen Verwaltungen zu infiltrieren. Desto besser diese Verwaltungen aber arbeiten und desto mehr Rückhalt sie in der Bevölkerung haben, desto widerstandsfähiger sind die Orte in denen sie walten gegen die Versuche des HTS, seine Macht auszubauen.

Auch das ist einer der Gründe dafür, warum Mohammed und seine Mitstreiter so sehr auf ihre Reformen drängen. Nur eine stete Verbesserung des politischen Systems im Sinne der Menschen ihrer Stadt kann HTS auf Abstand halten. „Unser Kampf gegen die Islamisten und das Assad-Regime muss weitergehen“, sagt Mohammed. „Und dazu gehört auch einen funktionaler Lokaler Rat – das ist von oberster Priorität.“

Adopt a Revolution unterstützt zivilgesellschaftliche Initiativen in ganz Syrien, darunter auch den Einsatz des zivilen Zentrums in Atareb gegen Extremisten. Helfen Sie mit, stärken Sie die syrische Zivilgesellschaft mit Ihrer Spende!

Jetzt spenden!

Herzlichen Dank!