Kurz erklärt: Daraa am Abgrund

Seit einer Woche greift das syrische Regime Daraa an, eine der zwei verbliebenen Rebellenenklaven.

“Sie sollten ihre Entscheidungen nicht auf die Annahme oder Erwartung einer militärischen Intervention unsererseits stützen.“ – Diese deutliche Nachricht sandten die Vereinigten Staaten vor wenigen Tagen an die jahrelang von ihnen unterstützten Rebellen in der südsyrischen Provinz Daraa. Seit rund einer Woche nehmen Artillerie und Panzer des Regimes dort gelegene Ortschaften unter Beschuss. Seit einigen Tagen bombardieren auch die syrische und russische Luftwaffe Ziele in der Region. Dabei werden auch international geächtete Fassbomben eingesetzt.

“Es wird ganz klar auf die Zivilisten abgezielt”, sagt Mohammed, Leiter eines von Adopt a Revolution unterstützten Zivilen Zentrums in Daraa. “Seit Beginn der Offensive gab es fast keine Opfer unter den bewaffneten Rebellen, es gab aber dutzende Tote ZivilistInnen, und es gibt bisher um die 80.000 Binnenflüchtlinge.” Ganze Dörfer im Osten Daraas seien geflohen: “Dort ist kein einziger Zivilist zurückgeblieben. Oft fliehen sie nur wenige Kilometer von der Front weg – was heißt, dass diese Menschen wieder und wieder werden fliehen müssen, aber wo sollen sie auch sonst hin?”

Tatsächlich gibt es für Flüchtlinge in Daraa keine echte Sicherheit. Das liegt zum einen daran, dass die syrische Armee alle Checkpoints geschlossen hat, die in von ihr gehaltenes Territorium führen. Zum anderen hat auch Jordanien, das im Süden an Daraa grenzt, schon lange seine Grenzen für syrische Flüchtlinge geschlossen.

Ist Daraa nicht eine Deeskalationszone?

Ja, Daraa gehört zu den vier im Juli 2017 von Russland, dem Iran und der Türkei festgelegten so genannten Deeskalationszonen. Auch Jordanien und die USA garantierten die Einhaltung dieses Waffenstillstandes in Südsyrien, indem sie auf die von ihnen unterstützten Rebellen einwirkten. Jedoch zeigte die brutale Rückeroberung der “Deeskalationszone” Ost-Ghouta was von diesem Abkommen zu halten ist. Denn tatsächlich diente es – wie so viele andere Waffenstillstände zuvor – einzig Russland und dem Regime dazu, bestimmte Fronten ruhig zu stellen, um die ausgeblutete syrische Armee zu entlasten und die eigene militärische Schlagkraft auf einzelne Fronten konzentrieren zu können.

Zerstörung in Daraa. Foto: Medienzentrum Nabaa

Wer kontrolliert Daraa?

In Daraa dominieren eigentlich sehr moderate Rebellengruppen. Das hat vor allem drei Gründe: (1) Die jahrelange jordanische und amerikanische Unterstützung und die damit verbundene Unabhängigkeit von der Türkei und den Golfstaaten, (2) die geographische Distanz zu den von Islamisten dominierten nordsyrischen Schlachtfeldern und den Transitrouten der Radikalen sowie (3) die seit Jahren – für syrische Verhältnisse – eher geringe Intensität der militärischen Auseinandersetzung. All das bewahrte fast alle Gruppen vor einer Radikalisierung wie sie so viele andere syrische Milizen seit 2012 durchgemacht haben. Diese Rebellengruppen kontrollieren etwa die Hälfte der Provinz Daraa.

Spätestens seit 2016 haben jedoch Jordanien und die USA ihre Hilfen massiv zurückgefahren, was zur punktuellen Kooperation einiger dieser Milizen mit der al-Qaida-nahen Nusra-Front führte. Diese ist mit einer kleinen aber durch Jahrzehnte auf den Schlachtfeldern des internationalen Jihads gestählten Kampftruppe in Teilen der Provinz präsent, übt jedoch keinerlei Kontrollfunktion aus. Die andere Hälfte wird vom Assad-Regime und vom Iran kontrollierten schiitisch-islamistischen Milizen kontrolliert. Die gleichnamige Provinzhauptstadt ist zweigeteilt. Eine kleine Gruppe von IS-Kämpfern hält wiederum ein kleines Territorium nahe der Golanhöhen an der Grenze zu Israel.

Frontverschiebungen in Daraa zwischen dem 25. und 26. Juni. Rot: Assad-Regime. Grün: Rebellen. Schwarz: Islamischer Staat.

Welche Rolle spielen ausländische Mächte im Konflikt um Südsyrien?

– Die USA und Jordanien haben lange die Rebellen unterstützt, ihre Hilfen jedoch mittlerweile fast vollständig eingestellt. Die USA haben den Rebellen klargemacht, dass sie keine Unterstützung aus Washington erwarten können. Jordanien sorgt sich mittlerweile primär darum, wie sich die Verhältnisse zum Nachbarland Syrien unter einer Herrschaft Assads dereinst gestalten werden. Quellen unter den Rebellen zufolge bemüht sich Jordanien jedoch, zumindest das Deeskalationsabkommen zu retten – aus Furcht vor hunderttausenden Flüchtlingen, die bald an der Grenze gefangen sein könnten.
– Der Iran, einer der engsten Verbündeten Assads, ist in Südsyrien sehr präsent. Die islamistischen Mullahs würden ihre Milizen gerne so nah wie möglich an den Golan heranrücken lassen, um Israel zu bedrohen, dessen Vernichtung sie seit Jahrzehnten beschwören.
Israel hat lange verschiedene moderate Rebellengruppen unterstützt, die in Quneitra westlich von Daraa direkt an ihrer Grenze aktiv sind. Ob diese Unterstützung anhält ist unklar. Jedenfalls ging es der israelischen Armee darum, eine Pufferzone gegen den Iran aufzubauen. Auf eine solche hat man sich Berichten zufolge mit Russland und dem Assad-Regime verständigt. Beide würden den Iran nicht näher als 15 Meilen an die von Israel besetzten Golanhöhen heranrücken zu lassen. Ob das Regime sich daran halten wird, erscheint eher unwahrscheinlich.
– Neben dem Deal mit Israel hat Russland lange versucht, einen Weg zu finden, die Rebellen zu einer verhandelten Kapitulation zu bewegen. Dies ist nicht gelungen. Nun unterstützt es wie gewohnt das Assad-Regime mit Luftangriffen. Manche Analysten weisen darauf hin, dass die Offensive auf Südsyrien vor allem vom Iran und dem Regime gegen den Willen Russlands vorangetrieben würde. Dies ist jedoch absurd, weil es absolut abwegig ist, dass Russland eine von US-gestützten Rebellen kontrollierte Einflusszone entlang wichtiger Handelsrouten gen Jordanien toleriert hätte.

Was hat die syrische Armee vor?

Das Regime scheint eine bewährte Methode ihrer Kriegsführung anzuwenden: Die Teilung des von ihren Gegnern kontrollierten Gebiets (gegenwärtig liegt der Fokus der Armee auf dem Nordosten der Provinz), das Terrorisieren der Zivilbevölkerung, um diese in die Unterwerfung zu treiben (wie gewohnt wurden bereits erste Krankenhäuser angegriffen) und eine anschließende Vertreibung von Teilen der aufständischen Bevölkerung und der Kämpfer. Die Frage ist wohl primär, wie ein solcher Deal aussehen könnte. “Es ist klar, dass das Regime auf seine Politik der verbrannten Erde setzt”, sagt Alaa, ein Fotograf in Daraa. “Früher hätten wir angesichts der willkürlichen Bombardierungen einfach ausgeharrt und gewartet, dass sie wieder aufhören. Heute wissen wir, dass sie nicht einfach aufhören werden, bis sie nicht ihr Ziel erreicht haben.”

Auch Mohammed, der Leiter des Zivilen Zentrums in Daraa, ist sich sicher: “Das Regime will seine Kontrolle ausweiten und dann Daraa in zwei Teile teilen, so wie es das in Ghouta gemacht hat. Dann kann das Regime uns seine Bedingungen in etwaigen Verhandlungen einfach aufdrücken.”

Weil es in Mohammeds Stadt noch ruhig ist, haben sie der Offensive zum Trotz bisher alle geplanten Aktivitäten durchgeführt, darunter ein Workshop. Warum? “Der Kurs ist schon seit anderthalb Stunden vorbei, aber die Leute sitzen immer noch da und diskutieren über die Situation. Auch deswegen ist unser Zentrum so wichtig, es ist ein Raum in dem auch nachgedacht und verarbeitet werden kann in so schwierigen Situationen. Und die Menschen können hier Luft holen.“

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