Kobani, Türkei, Syrien & die USA – Presseschau vom 14.10.2014

Omnipräsent in den Medien ist in diesen Tagen die Schlacht um die nordsyrische, kurdisch-dominierte Stadt Kobani (im Arabischen Ain al-Arab), die an Kämpfer des Islamischen Staates (IS) zu fallen droht. Es erscheint unverständlich, dass das Militär des NATO-Mitgliedsstaates Türkei nicht eingreift, obwohl es die Kämpfe aufgrund der Grenznähe Kobanis hautnah mitverfolgen kann. Die Türkei macht […]

Omnipräsent in den Medien ist in diesen Tagen die Schlacht um die nordsyrische, kurdisch-dominierte Stadt Kobani (im Arabischen Ain al-Arab), die an Kämpfer des Islamischen Staates (IS) zu fallen droht. Es erscheint unverständlich, dass das Militär des NATO-Mitgliedsstaates Türkei nicht eingreift, obwohl es die Kämpfe aufgrund der Grenznähe Kobanis hautnah mitverfolgen kann. Die Türkei macht ein mögliches Eingreifen jedoch von Bedingungen abhängig. So schreibt Sinan Ülgen für Carnegie Endowment, dass die Türkei den IS nur als Symptom und nicht als Ursache des Krieges im Mittleren Osten sieht. Sie glaube, dass nur eine umfassende und entschlossene Kampagne gegen das Assad-Regime helfen kann, um die Region langfristig zu stabilisieren. Die Türkei verlangt daher die Errichtung von Flugverbotszonen und Schutzzonen innerhalb Syriens. Diese Gebiete sollten weitere Flüchtlinge beherbergen sowie als Trainingszone für gemäßigte Oppositionskämpfer dienen.

Allerdings findet die sture Beharrung der Türkei auf einen Regimewechsel in Syrien keinen Anklang in Washington. Für die USA und die weitere westliche Welt stellt allein IS die Hauptgefahrenquelle im Mittleren Osten da. Aus diesem Grund werde die IS-Strategie der Türkei ineffektiv und im schlimmsten Falle konterproduktiv sein. Darüber hinaus ist die Türkei besorgt über den hohen Grad der Autonomie, den die kurdische Region Rojava in Nordsyrien erlangt hat. Rojava könnte unter Umständen einen weiteren Schritt in Richtung der Gründung einer großen, unabhängigen kurdischen Einheit bedeuten. Dadurch könnten wiederum Abspaltungstendenzen der Kurden innerhalb der Türkei befeuert werden. Allerdings sind in der Türkei mittlerweile tausende Kurden auf die Straße gegangen, um ihren Unmut über die Haltung der Türkei gegenüber Kobani in (teils) gewaltsamen Protesten kundzutun. Die kurdische Führung droht außerdem mit dem Ausstieg aus den Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung, sollte Kobani an den IS fallen. Dies zeigt, wie sehr – nicht zuletzt durch die Politik der türkischen Regierung – der Konflikt in Syrien auf die Innenpolitik in der Türkei wirkt.

Währenddessen beschuldigt der amerikanische Vize-Präsident Joe Biden die US-Alliierten im Mittleren Osten – allen voran die Türkei, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – den Aufstieg des IS durch Waffenlieferungen und Geldströme befeuert zu haben, wie RT berichtet. Demnach seien die genannten Staaten so erpicht darauf gewesen, Assad zu stürzen, dass sie jedem, der bereit gewesen sei, gegen Assad zu kämpfen “hundreds of millions of dollars and tens of thousands of tons of weapons” bereitgestellt hätten.

Darüber hinaus berichten Andrew Thompson und Jeremi Suri in der New York Times, wie die USA auf eine weitere Weise zur Entstehung des IS beigetragen hätten. So waren der Anführer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, sowie zahlreiche weitere, mittlerweile in die Führungsriege des IS aufgestiegene Personen vormals unter US-Kommando im Camp Bucca im Südirak inhaftiert worden. Dort wurden einerseits Extremisten – darunter auch obengenannte IS-Führungskader – inhaftiert, welche sich in der Haft weiter radikalisierten. Andererseits reichte als Kriterium, um inhaftiert zu werden, männlich und im Wehrdienstalter zu sein sowie „verdächtig“ auszusehen. Daher wurden auch viele Unschuldige im Camp Bucca inhaftiert. Derartige Gefängnisse wurden so zu Rekrutierungszentren und Trainingskamps für radikale Islamisten.

Über die nun durch die USA initiierte und durchgeführte Bombardierung des IS äußert sich eine Gruppe syrischer Aktivistinnen kritisch, wie Indira A.R. Lakshmanan auf Bloomberg berichtet. Demnach würde Assad die Bevölkerung ebenso terrorisieren wie der IS. Nur den IS zu bekämpfen, würde also Assad in die Hände spielen und nicht dazu beitragen, den seit drei Jahren wütenden Bürgerkrieg in Syrien zu beenden. Darüber hinaus würden die Milizen des IS inmitten der Bevölkerung leben, sodass es unmöglich sei, diese auszuschalten, ohne auch Zivilisten zu töten. Es komme immer wieder zu US-Bombenangriffen, wo genau dies gescheh. Dies führe dazu, dass unter der syrischen Zivilbevölkerung Sympathien für den IS befeuert würden. Die Syrer sind verbittert darüber, dass die USA ohne zu Intervenieren zugeschaut haben, wie in den letzten drei Jahren 200.000 Syrer – unter anderem durch den Einsatz chemischer Waffen – ums Leben gekommen sind. Nun würde die gesamte syrische Bevölkerung den Preis für die Bombenangriffe auf den IS zahlen, was zu einer anti-amerikanischen Stimmung im Land führen würde. Nach Meinung der Aktivistinnengruppe hätte das syrische Regime durch seine Unterdrückung eine Brutstätte für Islamisten geschaffen. Darüber hinaus hätte das Regime Kriminelle aus den Gefängnissen entlassen, in der Hoffnung, dass die internationale Gemeinschaft zu dem Schluss kommt, Assad wäre die bessere Alternative. Derzeit lässt sich sagen, dass Assad international mit dieser Taktik Erfolg hatte. Auch in deutschen Medien wird darüber sinniert, ob die Assad-Diktatur nicht doch den Terroristen des IS vorzuziehen sei.

Ein Bericht von Nagieb Khaja auf Aljazeera erschüttert jedoch jene Annahme. Der Journalist hat Ärzte in Aleppo bei der Behandlung von Verletzten begleitet. Sie sind überwiegend Opfer von vom Regime abgeworfenen Fassbomben. Diese werden aus alten Ölfässern oder Mülltonnen hergestellt, welche mit Schrauben, explosivem Material und Altmetall gefüllt werden. Sie sind extrem günstig herzustellen – und extrem unpräzise. Sowohl Human Rights Watch als auch die UN haben den Einsatz von Fassbomben durch das Regime aufgrund der wahllosen Wirkung kritisiert. Die gängige Taktik des Regimes ist es außerdem, ein Ziel zu bombardieren und, wenn anschließend Helfer herbeieilen, noch einmal nachzulegen. Zusätzlich zu den grauenhaften Verletzungen durch Fassbomben sind Krankenhäuser in Aleppo miserabel ausgerüstet. Zudem beziehen sie ihren Strom meist von instabilen Generatoren. Wenn diese während einer lebenswichtigen Behandlung ausfallen, bedeutet das ziemlich sicher den Tod des Patienten.

feed_iconUnsere Syrien-Presseschau als RSS-Feed abonnieren.

Für eine wöchentliche Zusammenfassung unserer Beiträge im Syrischer Frühling-Blog schicken Sie uns doch einfach eine E-Mail an: newsletter[ätt]adoptrevolution.org.

Dieser Beitrag ist lizensiert als Creative Commons zur freien Verwendung bei Namensnennung. Bei kommerzieller Weiterverwendung bitten wir um eine Spende an Adopt a Revolution.