Abdallah

„Ich fühle mich schuldig, wenn ich auf Gras trete. Denn Gras hat uns während der Belagerung den Hunger gestillt.“

In dem zweiten Interview erzählt Abdallah aus Yarmouk, warum er weitermacht und wie er die Belagerung und die Stürmung des Camps durch den ISIS erlebt hat. Wir zeigen auf der Kulturellen Landpartie im Wendland die Ausstellung „Wir bleiben trotzdem!“ SyrerInnen erzählen von 5 Jahren zivilem Aufstand. Noch bis zum 16. Mai 2016 kann die Ausstellung […]

Abdallah

In dem zweiten Interview erzählt Abdallah aus Yarmouk, warum er weitermacht und wie er die Belagerung und die Stürmung des Camps durch den ISIS erlebt hat. Wir zeigen auf der Kulturellen Landpartie im Wendland die Ausstellung „Wir bleiben trotzdem!“ SyrerInnen erzählen von 5 Jahren zivilem Aufstand. Noch bis zum 16. Mai 2016 kann die Ausstellung in Klein Witzeetze am Wunderpunkt 6 angesehen werden, die zivile AktivistInnen zu Wort kommen lässt. Für all jene, die es nicht dorthin schaffen, werden hier die vier Interview-Texte veröffentlicht.

Der palästinensische Stadtteil Yarmouk liegt im Süden der syrischen Hauptstadt Damaskus. Seit 2013 belagert das Assad-Regime das als palästinensisches Flüchtlingslager entstandene Camp Yarmouk. Es fehlen Lebensmittel, Medikamente. Das Wasser ist knapp. Zivile AktivistInnen leiten dort das Watad Zentrum für Zivilgesellschaft, bis am 1. April 2015 Radikalislamisten den Stadtteil einnehmen. Das Watad-Zentrum wird von ISIS besetzt, viele der AktivistInnen müssen fliehen.

Wie heißt du, wie alt bist du, wo hast du gelebt?
Ich heiße Abdallah al-Khateeb. Ich bin palästinensischer Syrer, 27 Jahre alt und lebte im Camp Yarmouk. Ich bin ein Aktivist der ersten Stunde. Im Camp Yarmouk schafften wir zivilgesellschaftliche Strukturen, um die Verwirklichung unserer Ziele zu erreichen. Wie zum Beispiel den Sturz des syrischen Regimes.

Was bestimmte deinen Alltag?
Wir haben das Watad-Zentrum aufgebaut. Watad bedeutet „Pflock“. Mit dem zivilgesellschaftlichen Zentrum möchten wir den Menschen von Yarmouk Halt bieten, so wie der Pflock ein Zelt am Boden befestigt. Die Idee für das Zentrum entwickelten drei Freunde und ich. Unser Wunsch war es, eine solidarische Gesellschaft mit demokratischen Strukturen aufzubauen. Angeleitet durch Experten sollten sich die AktivistInnen mit ihren aktuellen Problemen auseinandersetzen und ein Bewusstsein für soziale, gemeinschaftliche, demokratische Arbeit entwickeln.
Aufgrund der Belagerung arbeiteten wir auch an Projekten zur Nahrungsmittelversorgung. Wir schufen uns selber eine Grundlage, indem wir eigenständig Gemüse auf Dächern und kleinen Erdflächen zwischen den Häusern anpflanzten. Belagerung bedeutet dabei nicht nur, dass wir zu wenig Nahrungsmittel haben. Eine Belagerung schleicht sich tief in die Seele ein und erzeugt psychischen Druck. Die Erfahrung der Belagerung hat mein Bewusstsein dafür geschärft, was es eigentlich bedeutet, immer etwas zu Essen zu haben. Ich fühle mich schuldig, wenn ich auf Gras trete. Denn Gras hat uns während der Belagerung den Hunger gestillt.

Du warst dabei als ISIS das Camp Yarmouk stürmte. Was passierte damals?
Ich wollte das Camp Yarmouk trotz der Belagerung durch das Assad-Regime nicht verlassen. Doch am 1. April 2015 hat die radikalislamistische Gruppe ISIS den Stadtteil gestürmt. Sie versuchten, mich zu entführen. Erst durch die Ermordung meines Kollegen Firas Al-Naji begann ich darüber nachzudenken, Yarmouk zu verlassen. Mein mittlerweile verstorbener Kollege Gamal Khaleefa erzählte mir, ISIS sei in das Camp eingedrungen. Sie besäßen eine Todesliste, auf der mein Name stehe und ich müsse sofort verschwinden. Ich konnte den ganzen Tag das Haus wegen der Straßenkämpfe nicht verlassen. Erst am Abend war der Weg für meine Flucht wieder sicher. Seitdem lebe ich ganz in der Nähe im ebenfalls belagerten Yalda, aber der Weg nach Yarmouk ist für mich unüberwindbar. Es ist merkwürdig, so nah am Camp zu leben, und nicht hinein zu können.

Was hat die Flucht aus dem Camp Yarmouk in deinem Leben verändert? Wie gehst du mit dem Erlebten um?

Meine Tage in Yalda sehen nicht anders aus als die im Camp Yarmouk. Ich arbeite weiter für dasselbe Ziel. Nur die Gesichter haben sich verändert. Meine Freunde Firas, Gamal, Waseem, Bashar, Abed und Qasy sind nicht mehr bei mir. Entweder sind sie gestorben, inhaftiert oder in Yarmouk geblieben. Ich versuche mich an meine neue Situation zu gewöhnen, aber es fällt mir schwer.

Warum machst du weiter?
Ich sehe mich als Teil der Revolution. Eine Revolution, die in allen Lebensbereichen nach Freiheit verlangt. Dabei unterscheide ich nicht zwischen den Zielen der PalästinenserInnen und derer, die die syrische Revolution vorantreiben. Beide Völker streben danach, in Freiheit zu leben. Viele von ihnen sind zu Geflüchteten geworden. Meiner Nationalität nach bin ich Palästinenser, aber ich empfinde mich auch als Syrer. Ich möchte mein Leben in Syrien weiterleben. Ich habe eine moralische Verantwortung und ich möchte den Weg fortsetzen, den wir als zehn Freunde begonnen haben, auch wenn wir nur noch zu viert sind.

Welche Zukunft wünschst du dir?
Meine Sicht auf die Zukunft ist verschwommen. Ich weiß nicht genau, was ich mir wünsche. Eines Tages möchte ich mein Studium fortsetzen. Generell wünsche ich mir, dass Syrien ein freies Land wird. Dass alle, die es verlassen mussten, in ihre Häuser zurückkehren können. Ich wünsche mir, dass jeder, der ein Verbrechen begangen hat, dafür vor Gericht kommt. Ich wünsche mir, dass es keinen Extremismus mehr in Syrien gibt. Das syrische Regime hat bereits viele der friedlichen AktivistInnen getötet. Um so mehr Verantwortung lastet auf den Schultern der noch Lebenden. Wir müssen noch viel bewirken. Vielleicht können wir nicht alle Bereiche der Gesellschaft verändern, aber wir haben zumindest gegeben, was wir geben konnten an Moral und Menschlichkeit.

Weiterlesen: Teil 1 | Teil 3 | Teil 4

Sie möchten die Ausstellung in Ihre Stadt holen? Sie kennen einen geeigneten Ort, der die Ausstellung präsentieren möchte? Dann schreiben Sie an info@adoptrevolution.org. Wir schicken Ihnen gerne eine Informationsbroschüre mit den Bildern und Interviews der Ausstellung zu.

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