Anti-HTS-Protest in Idlib

Hai’at Tahrir al-Sham in Idlib: »Sie haben ein Regime der Angst errichtet«

Ein Gespräch mit der Aktivistin Zahra, die trotz der Machtübernahme der Dschihadisten weiter für Bürgerrechte in Kafranbel kämpft.

Anti-HTS-Protest in Idlib

Anfang dieses Jahres hat die Dschihadistenallianz Hai’at Tahrir al-Sham (HTS) fast die ganze Provinz Idlib und den Westen Aleppos unter ihre militärische Kontrolle gebracht. Seither verfolgt sie verstärkt ihre Gegner — doch auf ziviler Ebene sind die Machtverhältnisse weitaus komplizierter. Von einer Dominanz der HTS in diesem Bereich kann noch nicht die Rede sein, zahlreiche Institutionen und Aktivisten widersetzen sich der Autorität der Radikalen. Dennoch setzen westliche Geberländer und internationale Organisationen ihre Hilfen in Idlib aus, weil sie fürchten, damit HTS in die Hände zu spielen. Die Aktivistin Zahra hält das für die falsche Reaktion. Ihre Stadt Kafranbel ist bereits länger de facto unter militärischer Kontrolle der Radikalen. Das gibt einen Ausblick auf das, was andere Teile Idlibs nun erwarten könnte.

Wie nimmt HTS Einfluss auf das Leben in Kafranbel?

Um zu verstehen, wie HTS Städte wie Kafranbel kontrolliert, muss man zuerst verstehen, dass das nicht mit Soldaten und Checkpoints geschieht. Ihre Hauptquartiere sind außerhalb der Stadt, ihre Kämpfer patrouillieren hier nicht auf den Straßen. Seit mehr als zwei Jahren kontrollieren sie nun de facto unsere Stadt. Am Anfang gab es da noch andere Fraktionen, mit denen sie immer wieder in Konflikt gerieten — seit 2018 aber dulden sie keine anderen Gruppen mehr neben sich. HTS hat ein Regime der Angst errichtet, sodass es keine andere Fraktion wagen würde, ihre Macht in Frage zu stellen. Wie gesagt: Man sieht sie hier nicht auf der Straße. Wenn sie jemanden verhaften, dann passiert das meist in der Nacht oder im Rahmen gezielter Razzien.

Gegen wen geht HTS in Kafranbel vor?

Sie verfolgen hier vor allem Journalisten und Medienaktivisten, die HTS mit ihren Artikeln und Karikaturen angegriffen haben. Anfangs gab es noch kleinere Freiräume für Kritik — die sind heute weg. Es scheint so, als würde HTS denken, dass die lokale Zivilgesellschaft ihnen nicht so gefährlich werden kann, wenn unsere Stimmen mangels Journalisten nicht über die Grenzen unserer Städte hinauskommen können.

Im November 2018 wurden in Kafranbel die bekannten Aktivisten und HTS-Gegner Raed Fares und Hamoud al-Jneid mutmaßlich von HTS ermordet.

Der Tod von Raed und Hamoud war total krass, wir hatten das Gefühl, dass die Revolution nun vorbei sei. Raed war Teil der Revolution von Anfang an. Als er tot war, war das sehr hart für uns. Es war unsere Stimme und er hat unser Leiden in die ganze Welt getragen. Als er ermordet wurde, wussten wir, dass sie jeden verfolgen würden. Ein anderer Aktivist organisierte nach ihrem Tod eine Demonstration. Seitdem ist auch er verschwunden. Selbst ein Like auf Facebook kann zur Gefahr werden. Und doch: Wir wollen nicht aufgeben, HTS nicht das Feld überlassen.

Mahnwache in Kafranbel nach der Ermordung zweier bekannter Aktivisten

Welche Regeln erlegt HTS der Gesellschaft auf?

HTS setzt auf eine Politik der Intransparenz. Das ist genau der Unterscheid zwischen ihnen und Daesh [arabisches Akronym für „Islamischer Staat“]. HTS sagt nicht, was erlaubt und was verboten ist. Oft gibt es nicht mal offizieller Verlautbarungen neuer politischer Maßnahmen, die werden dann einfach so still und leise eingeführt. Das heißt auch, dass wir oft nicht wissen, ob Menschen verhaftet wurden oder verschwunden sind. HTS teilt uns nichts mit. Ihre Kämpfer sind genau so. Viele sind Einheimische und auch die scheinen oft nicht so recht zu wissen, was gerade los ist. Auch sie sind Spielfiguren der Führung.

Wie sieht es im Bildungsbereich aus, in dem du ja auch aktiv bist?

In den Schulen greifen sie kaum ein. Sie können weiterlaufen mit einigen Ausnahme: Bestimmte Fächer wie Musik und Malen sind untersagt. Den Mädchen ist eine Kleiderordnung vorgeschrieben. Kopftücher, die wiederum nur bestimmte Farben haben dürfen: Braungrau und schwarz.

Welche Räume bleiben also der Zivilgesellschaft? Gibt es Themen, die Ihr nicht anpacken dürft? Beziehungsweise — du hast ja die Instransparenz der HTS erwähnt — ab wo greift da die Selbstzensur?

Egal, welches Thema wir machen wollen, wir müssen gucken, ob das geht. Unsere Strategie ist, dass wir einfach nicht über alle Aktivitäten öffentlich reden, nicht alles im Internet teilen. Dann besteht auch die Chance, dass niemand kommt, um sie einem zu verbieten. Aber natürlich ist es schwierig, unter den gegebenen Umständen über Säkularismus zu diskutieren. Dennoch betreiben wir keine Selbstzensur. Wir glauben, dass wir alles machen können, was wir uns in den Kopf gesetzt haben — die meisten Frauen hier glauben das. HTS hatte nie gedacht, dass wir so viel Ausdauer dabei zeigen würden, widerspenstig zu bleiben.

HTS finanziert sich über eine Art Steuersystem, genannt atawat. Dies ist ein Hauptgrund dafür, dass westliche Geber fürchte, in Idlib die Terroristen selbst zu finanzieren, wenn sie weiter Hilfe vor Ort leisten. Wie muss man sich dieses System vorstellen?

Das ist eine Art Schutzgeld. Auch das ist völlig intransparent. Ohne vorherige Warnung heißt es dann etwa plötzlich, dass man an bestimmten Checkpoints so und so viel Geld zahlen muss. Wenn man bestimmte öffentliche Gebäude nutzen will, dann verlangen sie auch Abgaben. Das Krankenhaus wiederum muss keine Abgaben machen. Die humanitäre Hilfe in Kafranbel läuft über den Lokalen Rat. Da nimmt HTS dann wieder einen bestimmten Prozentsatz von den ankommenden Hilfen. Es ist kompliziert.

Für Kafranbel gibt es somit aus Vorsicht schon länger keine internationale Hilfe mehr?

Richtig.

Du hältst das aber für falsch — warum?

Wenn auf einmal die Finanzierung aufhört, dann bedeutet das große Probleme. Zum einen bedeutet ein Ende der Hilfe noch mehr Perspektivlose. Zum anderen verlieren viele junge Männer ihre Arbeitsplätze. Was dann noch bleibt, ist für viele nur noch der Gang zu den bewaffneten Fraktionen… und da gibt es ja nur noch HTS. Und somit treibt man die Menschen den Extremisten in die Arme. Die Leute müssen sich eben ernähren. Aber wenn wir nicht weitermachen, hat HTS doch gewonnen! Was ist denn das für ein Signal, das die Welt uns da sendet? Für uns ist das wichtigste, dass die Finanzierung direkt an uns geht — direkt an die richtigen Initiativen. Sie dürfen nicht über andere Organisationen oder den Lokalen Rat verteilt werden. Dann können wir Hilfe direkt für die Menschen leisten, die sie benötigen — ohne atawat. Die Geldgeber haben Angst um ihr Geld — aber das ist auch das einzige, was sie verlieren können… wir hingegen können unser Leben verlieren und so lange werden wir hier auch weitermachen.

Interview: Jan-Niklas Kniewel