“Strangulation und Angst vor dem Tod” – Erinnerungen an den 21. August 2013

Ein Jahr nach dem massiven Chemiewaffen-Angriff auf Wohngebiete rund um Damaskus haben wir AktivistInnen gefragt, wie sie die Angriffe erlebten und was ihre Erinnerungen daran sind. Binnen kürzester Zeit kamen am 21. August 2013 über 1.300 Menschen ums Leben – und die betroffenen Gebiete werden weiterhin beschossen, bombardiert und von der syrischen Armee abgeriegelt. Wir […]

Ein Jahr nach dem massiven Chemiewaffen-Angriff auf Wohngebiete rund um Damaskus haben wir AktivistInnen gefragt, wie sie die Angriffe erlebten und was ihre Erinnerungen daran sind. Binnen kürzester Zeit kamen am 21. August 2013 über 1.300 Menschen ums Leben – und die betroffenen Gebiete werden weiterhin beschossen, bombardiert und von der syrischen Armee abgeriegelt. Wir dokumentieren, warum der Anschlag für die zivile Bewegung in Syrien zum Wendepunkt in ihrem Aufstand wurde.

Amal - DoumaAmal studiert Pharmazie und lebt in Douma bei Damaskus.

“Der Chemiewaffenangriff hat Douma selbst nicht direkt getroffen, aber nahegelegene Viertel. Mitten in der Nacht, so ab 4 Uhr, hörten wir die Sirenen der Krankenwagen, plötzlich war es laut auf den Straßen. Das war merkwürdig, denn normalerweise gibt es um diese Zeit nicht viel Bewegung auf den Straßen.

Die Tochter unserer Nachbarn hatte am nächsten Tag ihre Abschlussprüfung in der Mittelschule. Sie hatte Angst und sagte: “Ich werde da nicht hingehen!”. Weil sie aber eigentlich ein sehr kluges Mädchen ist, wurde ich ein wenig wütend auf sie und sagte: “Los, zieh dich an! Ich bring dich hin!” Wir gingen also gemeinsam los und draußen sahen wir auf den Straßen die Krankenwagen, die viele Erwachsene und Kinder abtransportierten. Die Nothilfestationen waren alle völlig überfüllt.

Da der Angriff nicht direkt Duma traf, wussten wir nicht, was genau geschehen war. Uns fiel aber an den Leichen, die wir sahen, sofort auf: Es war kein Blut zu sehen! Die Kinder sahen einfach so aus, als würden sie schlafen. An diesem Tag fand die Abschlussprüfung meiner Nachbarin nicht statt.

Ich habe damals erwartet, dass sich jetzt endlich etwas bewegen würde, wir über das Regime siegen würden und der Belagerungszustand Ost-Ghoutas aufgelöst werden würde. Und ich habe so sehr gehofft, dann wieder zur Universität gehen zu können, die ich sehr vermisse. Ich warte bis jetzt darauf.”

2 a Muhammad west of AleppoMuhammad studierte an der Universität von Aleppo, jetzt kämpft er täglich ums Überleben. Er stammt aus Atareb, westlich von Aleppo.

“Zuerst habe ich sehr viel Haß empfunden. Aber nach einiger Zeit bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass all die Toten jetzt an einem besseren Ort sind. Wir müssen uns daran erinnern, dass wir die Verantwortung haben, den Weg fortzuführen und weiterhin die Message zu verbreiten, weswegen die Menschen getötet worden sind.

Seit einem Jahr erwarte ich, dass die internationale Gemeinschaft eingreift und die Welt nicht länger dabei zusieht wie das Regime Verbrechen begeht. Dann würde Syrien befreit werden von Assad und seinem Regime. Aber das Erscheinen von ISIS hat der Revolution geschadet und uns viele Schritte zurück geworfen. Wir werden weiterhin für die Gleichheit und Gerechtigkeit aller Bürger in ganz Syrien kämpfen.”

3 a Ahmad KobaniAhmed Shekho lebt in Kobani, im kurdisch geprägten Norden Syriens. Vom Giftgas-Massaker hat er aus Erzählungen und über die sozialen Medien erfahren.

“Die Opfer des Chemiewaffenangriffs, der Geruch, der mit ihnen kommt, das Bewußtsein verlieren, das Gefühl von Strangulation, die Angst vor dem Tod – das alles fühle ich, wenn ich an den Angriff denke, selbst wenn ich nicht vor Ort war. Zur gleichen Zeit siehst du die Propaganda des Regimes auf allen Medienkanälen. Das Gefühl der Enttäuschung und der Hoffnungslosigkeit ist überwältigend. Am Ende hat uns niemand geholfen.

In dieser Zeit habe ich gedacht, alle möglichen politische Lösungen für Syrien haben versagt und es gibt keine Option mehr. Ich erwartete militärische Intervention von anderen Ländern, die für die Menschenrechte und den Frieden einstehen. Aber de facto – nach einem Jahr – zeigt sich, dass sich nichts verändert hat. Das kriminelle Regime greift weiter Bürger an, tötet, inhaftiert und entführt sie, das führt die Menschen Syriens in eine Situation, die immer schlechter und schlechter wird mit jedem neuen Tag.”

Chemiewaffen in DamaskuskHasan Khalid kommt aus Erbin, Ost-Ghouta bei Damaskus, wo er Architektur studiert.

“Wir hatten es mit einer riesigen Menge an Leichen zu tun, deren Identität niemand kannte. Alle bekamen eine Nummer. Es war heiß und es gab keine Möglichkeit die Leichen zu kühlen. Deswegen wurden sie sofort beerdigt. Meine Rolle war es mit einer Gruppe von anderen AktivistInnen alle diese Gesichter zu fotografieren. Nicht nur für die Medien, sondern auch, um nachträglich ihre Identität feststellen zu können.

Es brachen Anrufe von arabischen und internationalen Presseagenturen über uns herein und wir wurden über das Massaker befragt. Ihre Fragen gaben mir das Gefühl, dass das Thema für sie nur eine Nachricht, ein Medienspektakel war. Die Medien würden ein wenig Lärm machen und nach ein paar Tagen würde die Welt das ganze wieder vergessen. Niemand fragte nach der Frau auf einem der Bilder, die zwischen den Leichen nach ihrer Tochter suchte – ob sie sie gefunden hatte oder nicht.”

Zum ausführlichen Beitrag von Hasan

Sameh ist 21 Jahre alt. Er arbeitet in Duma als Medienaktivist für internationale Medien und entschied sich dafür, nicht über das Massaker zu berichten.

Der Anblick von toten Kindern und Frauen ist mir am Stärksten in Erinnerung geblieben. Ganze Gebäude mit mehreren Stockwerken waren mit Leichen gefüllt. Das syrische Regime hat den Toten das Recht eingeräumt, äußerlich unversehrt zu sterben. Mit allen Körperteilen. Das habe ich gedacht. Damals wurden zwei Städte, Zamalke und Ain Turma, mit Chemiewaffen angegriffen. Ich habe mich immerzu gefragt: Wann sind wir dran? Duma liegt von den beiden Städten nur ca. acht Kilometer entfernt. Das waren ganz unbekannte Angstgefühle für mich. Jeder von uns kennt den Tod durch Granaten und Raketen. Aber der Tod durch Ersticken – durch bloßes Einatmen – das war etwas anderes. Eine neue Art des Todes.

Ich habe über das Massaker nicht berichtet. Ich hätte mich schlecht gefühlt, wenn ich darüber aus Duma berichtet hätte. Nur damit ein paar Kanäle das Thema als Mediensensation ausnutzen. Ich habe gewartet, was für ein Nachspiel der Angriff mit sich bringen würde. Auf das Echo aus der „freien westlichen Welt“. Ehrlich gesagt, war ich damals optimistisch, dass es zu dem Militärschlag kommen würde, den die USA auf die militärischen Stellungen des Regimes ausführen wollten. Und ich dachte, dieses Massakers würde endlich der Todesstoß für das Regime sein – und eine Sinngebung für uns und für die große Anzahl an Menschen, die getötet wurden. Ich dachte, dieses Massaker wäre die Brücke, die wir überqueren könnten und die schließlich zu unserer Freiheit und zum Sturz des Regimes führen würde. Nichts als heiße Luft, natürlich. Der Militärschlag wurde abgesagt. Die internationale Gemeinschaft begnügte sich damit, dem Verbrecher seine Waffen abzunehmen, anstatt ihn für seine Tat zur Rechenschaft zu ziehen. Das Regime blieb also frei und unangetastet. Assad wurden zwar seine Erstickungstod-Waffen abgenommen, aber er kommt auch ganz vorzüglich mit herkömmlichen Waffen aus, mit denen die internationale Gemeinschaft kein Problem hat. Außerdem wurden bereits mit anderen Chemikalien weitere Chemiewaffenangriffe geflogen.

Was bleibt? Die “Guten”, den demokratischen Westen, den gibt es nicht. Seit dem Chemiewaffenangriff hat sich an unserer Situation nichts zum Positiven verändert. Im Gegenteil, Assad und die Extremisten agieren in Syrien noch unbehelligter als zuvor.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers zum Giftgas-Jahrestag.

Nach wie vor sind überall in Syrien zivile AktivistInnen aktiv, um sich für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte einzusetzen. Dabei kämpfen sie nicht nur gegen das Assad-Regime, sondern auch gegen den dschihadistischen Terror. Sie brauchen dringend unsere Unterstützung, helfen Sie mit!

Syrische Zivilgesellschaft unterstützen!