Ghouta Update #6 | »Gürtel der Misere«: Klassenkampf in Ost-Ghouta

Die militärische Eskalation in Ost-Ghouta setzt sich fort. Doch warum traf der Konflikt die östlichen Vororte von Damaskus so hart? Warum wurde der Widerstand hier so unerbittlich? Ein historischer Abriss.

Seit dem Jahreswechsel ist die Lage in den östlichen Damaszener Vororten militärisch weiter eskaliert – mit fläckendeckendem Artellieriebeschuss und Luftangriffen greifen syrische und russische Kampfverbände die Städte und Kommunen Ost-Ghoutas ununterbrochen an. Seit Jahresbeginn wurden laut Angaben der Zivilen Verteidigungseinheiten 836 Menschen verletzt. Berichten zufolge kam es in der vergangenen Woche allein zu vier Angriffen mit der Chemiewaffe Chlorgas, zehn Krankenhäuser in Ost-Ghouta wurden durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss getroffen. Die Verstärkung der täglichen Bombardierungen geht auf einen vorübergehend erfolgreichen Vorstoß der Rebellenmilizen auf einen Militärstützpunkt nahe Harasta zurück. Die Wut Assads und seiner Verbündeter darüber haben, wie so oft, die knapp 400.000 in Ost-Ghouta lebenden Zivilisten auszubaden. Für viele Bewohner der besetzten Enklave setzt sich damit die historische Unterdrückung durch die herrschende Elite in Damaskus fort – ein wesentlicher Antrieb für die Protestbewegung in Ost-Ghouta. Viele Menschen dort gingen gleich zu Beginn der Aufstände 2011 auf die Straße.

Die Geschichte der östlichen Damaszener Vororte

Die Bevölkerung Ost-Ghoutas ist, wenngleich nominell fast ausschliesslich sunnitisch, sehr divers: Zum Teil ländlich, zum Teil industriell geprägt, beherbergt der östliche Damaszener Vorortgürtel politisch gesehen drei große Gruppen. Salafistische Islamisten, die sich hauptsächlich in Douma konzentrieren, machen etwa 8% der Bevölkerung aus. Dominante Kraft ist hier die Miliz Jaysh al-Islam, eine islamistische, der saudischen Regierung nahestehende Miliz. Daneben gibt es weniger radikale bis unpolitische islamische Gruppen sowie Säkulare unterschiedlichster Couleur, darunter Nasseristen, Anhänger des einstigen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser.

Historisch gesehen eint die Menschen in Ost-Ghouta nicht eine gemeinsame religiöse oder gar ethnische Zugehörigkeit, sondern die Differenz zu den herrschenden Schichten im benachbarten Damaskus. Dies hat historische Gründe: Das fruchtbare Gebiet um das urbane Zentrum Damaskus’, die „Ghouta“, ist seit der Antike als Kornkammer der Hauptstadt bekannt. Und über die Jahrhunderte hinweg haben die dortigen herrschenden Schichten versucht, sich diesen landwirtschaftlichen Reichtum zu eigen zu machen – etwa, indem sie Großgrundbesitz anhäuften und diesen gewinnbringend an die lokalen Bauern verpachteten. Bashar al-Assads Austeritätspolitik der 2000er, die auch mit der Kürzung von Agrarsubventionen einherging, traf Bauern wiederum landesweit besonders heftig.

Bis nach dem Zweiten Weltkrieg waren ein Großteil der Bewohner Ost-Ghoutas kleine Landeigentümer, auch wenn die Bourgeiosie des nahen Damaskus es schon immer auf die ertragreichen Länderen der Oasen um die Metropole herum abgesehen hatte. Nach der syrischen Unabhängigkeit von der französichen Mandatsmacht 1946 wuchs die Bevölkerung Ost-Ghoutas rasant an: Zu der traditionell landwirtschaftlich geprägten Bevölkerung gesellten sich nun, besonders in direkter Nachbarschaft zur Hauptstadt, Arbeiter aus den industriellen Zentren, geflüchtete Palästinenser und Landflüchtlinge auf der Suche nach Arbeit. Die Kleinstadt Douma, ein traditionelles Zentrum für sunnitische Gelehrsamkeit, expandierte. Dörfer wie Jobar wuchsen Anfang der Siebziger zu Städten mit 50.000 Einwohnern an. Die informelle Expansion der syrischen Hauptstadt auf das Damaszener Hinterland zerstörte viele traditionelle Strukturen und schuf einen „Gürtel der Misere“ um Damaskus herum. Die häufig marginalisierten Bevölkerungsschichten dieses Elendsgürteles waren in den frühen Sechzigern ein wichtiges Reservoir für das zumindest auf dem Papier sozialistische Projekt des arabischen Nationalismus nasseristischer Prägung: Nach dem Ende der Vereinigten Arabischen Republik, die Ägypten und Syrien bis 1961 vereinte, rebellierten die Menschen sechs Monate lang für die Fortsetzung der Union unter Nasser, bis dieser selbst sie dazu aufrufen musste, die Waffen niederzulegen. Noch heute hängt in vielen Haushalten sein Konterfei.

Von der Unzufriedenheit über Bashar al-Assads neoliberale Vetternwirtschaft zur Revolte

Ihren working-class-Charakter und die Verbundenheit mit sozialistischen bis nasseritischen Idealen behielt Ost-Ghouta bis heute bei. Zwar machten einige aus Ost-Ghouta stammende (sunnitische) Grossgrundbesitzer und Industrielle, wie der „Käsekönig“ Mohieddine Manfoush aus Mesraba, der während des syrischen Konflikts ein Vermögen mit der Herstellung von Milchprodukten (und später, der Vermittlung von Schmuggeldeals zwischen Regime und Jaysh al-Islam) verdiente, gemeinsame Sache mit dem Regime. Dies spiegelt die Teile-und-herrsche-Politik des Regimes hinsichtlich der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit wieder: Denn um zu überleben ist das Regime auf die Unterstützung von Teilen der sunnitischen Mittelklasse angewiesen. Doch wurden die Massen der Bevölkerung Ost-Ghoutas von dem Kurs neoliberaler Vetternwirtschaft seit Assads Machtübernahme 2000 nur noch weiter benachteiligt.

Viele Männer verliessen Syrien in den 1990er- und 2000er-Jahren auf der Suche nach Lohn und Brot in Richtung Golfstaaten, wo manche mit salafistischem Gedankengut in Berührung kamen. Die Unzufriedenheit mit dem Regime wuchs und wie viele sozioökonomisch ähnlich prekär aufgestellte, sunnitisch geprägte Gegenden um Damaskus revoltierte Ost-Ghouta gleich zu Beginn der syrischen Aufstände. So wurde die seit 2011 belagerte Region zu einem Zentrum des breit gefächerten friedlichen zivilen Aktivismus. Viele Einwohner griffen aber auch zu den Waffen. Ein Sammelsurium sunnitischen Kämpfer unterschiedlichster Couleur findet sich heute in der den Muslimbrüdern nahestehenden Miliz Faylaq al-Rahman, die, anders als die Salafisten von Jaysh al-Islam, ideologisch flexibel, wenn auch der Zivilbevölkerung gegenüber häufig sehr repressiv ist. Nachdem Russland das mit Faylaq al-Rahman vereinbarte zusätzliche Waffenstillstandsabkommen vom Juli 2017 brach, kämpft die Miliz nun an der Seite Ahrar al-Shams in Harasta.

Eva Tepest

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