Enas von der Initiative Enana Tashreen

»Ich fühle mich so stark wie noch nie«

Enas Kareem wollte eigentlich nur die Protestierenden im Irak mit Lebensmitteln unterstützen. Das war im Oktober 2019. Aber schnell wurde sie selbst in die Proteste und die Gewalt verwickelt und gründete daraufhin eine Frauengruppe, die heute Teil der sich entwickelnden feministischen Bewegung im Irak ist.

Enas von der Initiative Enana Tashreen

Enas, Du hast eine Frauengruppe ins Leben gerufen. Wieso habt ihr euch gegründet und seht ihr euch als Teil einer feministischen Bewegung im Irak?

Den Stein ins Rollen brachte ein Facebook-Post. Die Platzbesetzer brauchten Unterstützung und die wollten wir liefern: Essen, Medizin und vor allem Nachrichten. Frauen haben einen wesentlichen Teil dazu beigetragen, dass die Nachrichten über die Bewegung in die Welt getragen wurden. Unser Netzwerk umfasste Frauen auch außerhalb des Irak, die rund um die Uhr Nachrichten verbreiteten. Sie waren unsere Stimme. Auch jetzt, wo die Platzbesetzungen vorbei sind, machen wir genau damit weiter. 

Dieser Beitrag ist Teil unseres Bonus-Pakets zur Adopt-Zeitung 2020

Wir haben eine Sache, die uns antreibt, und das ist zunächst die Tashreen-Revolution. Aber innerhalb dieser Bewegung hatten wir endlich Raum auch Themen anzusprechen, die gegen uns gerichtet waren. So organisierten wir Proteste zu Gesetzesänderungen, die uns betreffen. Beispielsweise wollte die Regierung das Gesetz für Sorgerecht so verändern, dass nur noch Väter ein Recht darauf hätten. Feminismus ist also Teil der Bewegung geworden.

Der irakische Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi ist der Forderung der Protestierenden nachgekommen und im Dezember 2019 zurückgetreten. Dennoch halten die Protestcamps und Platzbesetzungen an. Warum?

Das stimmt, Abdel Mahdi ist tatsächlich zurückgetreten. Wir wollten aber einen wirklichen Wandel und kein „weiter so“ unter einem neu ernannten Ministerpräsidenten. Trotzdem wurde dann im Mai 2020 der parteilose Mustafa Al-Kadhimi Ministerpräsident, der aus Sicht der Protestierenden nur eine Kopie von Abdel Mahdi ist. Kadhimi hat die Protestbewegung genauso unterdrückt – nur mit anderen Mitteln. Anstatt direkt auf uns zu schießen, wurden die Proteste und Protestcamps mit Menschen aus dem Sicherheitsapparat unterwandert.

Am 25. Oktober diesen Jahres, also zum Jahrestag der Revolution, gab es landesweite Demonstrationen. Die waren total schön. Seit den frühen Morgenstunden waren wir alle auf den Straßen: Junge und Alte, Mädchen und Jungen, Frauen und Männer und natürlich die Studierendenbewegung. Es war total friedlich bis der Sicherheitsapparat um 14 Uhr begann gewaltsam gegen uns vorzugehen. Wir mussten die Verletzen zu Sanitätsstellen bringen – es war sehr schlimm. Uns ist dann erst aufgefallen, wie viele Menschen komplett vermummt auf der Demonstration waren. Das waren nicht unsere Leute!

Deswegen haben wir einen Tag später beschlossen, uns von den Plätzen und der Straße zurückzuziehen. Stattdessen organisieren wir jetzt regelmäßig Demonstrationen, um zu zeigen,dass wir noch da sind und wir jederzeit wieder mobilisieren können, um öffentliche Plätze zu besetzen. Aber nur so können wir uns im Moment vor einer weiteren Unterwanderung unserer Bewegung schützen. Das heißt aber keineswegs, dass die Tashreen-Bewegung, wie wir sie nennen (von Oktober = Tashreen) vorbei ist. Denn die Bewegung ist eine Idee, die sich im ganzen Irak verteilt hat.

Ihr findet Frauen auf Demos ehrlos? Dann wartet mal ab! Wir haben einfach das ganze Land mit Frauendemonstrationen geflutet. 

Enas Kareem

Wie macht ihr nun weiter? Habt ihr konkrete Pläne? 

Die Tashreen-Bewegung hat eine revolutionäre Generation im Irak entstehen lassen. Sie hat viele gesellschaftliche Traditionen über den Haufen geworfen. Aber leider waren wir nicht gut organisiert und haben es so den Parteien, die wir ablehnen, leicht gemacht uns zu unterwandern. Wir brauchen Organisation, um erfolgreich sein zu können, daran müssen wir nun arbeiten. Wir suchen nach Mechanismen, die zu unserer Bewegung passen. Aber solange es hier politische Morde und Korruption gibt und solange die politische Elite den Staat ausraubt, solange wird es die Tashreen-Bewegung geben und solange wird es sehr leicht sein Menschen zu mobilisieren. 

Kann es einen Wandel im Irak geben, solange immer wieder die USA und der Iran eingreifen und ihren Stellvertreterkrieg vor Ort ausführen? 

Das ist eine gute Frage und ein großes Thema. Ich habe das Gefühl, dass mir diese politischen Zusammenhänge erst im letzten Jahr wirklich klar wurden. Es ist absurd: Wir haben hier eine Frauenbewegung aufgebaut, die aber angesichts dieser Großmächte machtlos scheint. Wir können ihren Kampf nicht beenden, denn unsere Werkzeuge sind explizit friedlich. Wir können nur hoffen, dass wir einen Wandel im Land schaffen, welche die internationale Einmischung beenden wird.

Was hat sich für dich persönlich im Laufe des vergangenen Jahres auf politischer und gesellschaftlicher Ebene verändert?

Ich habe mich nie für Politik interessiert. Nach der Arbeit ging es nach Hause – das war‘s. Als ich mit der Frauengruppe begann die Protestierenden mit Lebensmitteln zu unterstützen und wir dann selbst massiv verletzt wurden, war klar, dass wir nun Teil dessen sind. Wir haben uns als Frauengruppe der Bewegung angeschlossen. Wir haben viele unserer Freund*innen verloren in unserem Wunsch nach Wandel. Derzeit ist die Situation echt schrecklich: Politisch Aktive werden gezielt entführt und ermordet.

Enas auf einer Demonstration im Irak
Enas auf einer Demonstration im Irak

Diese Sicherheit, wie wir sie auf dem Tahrir-Platz in Bagdad erlebten, habe ich zuvor in meinem Leben noch nie verspürt. Wir hatten einen Ort geschaffen, an dem wir endlich eine gesunde Beziehung zwischen den Geschlechtern herstellen konnten. Wir waren total durchmischt, es wurde gesungen und getanzt. Als Frau wurde ich mein ganzes Leben lang zum Objekt gemacht – außer auf dem Tahrir-Platz. Ich habe mich wie Zuhause gefühlt – sicher und geborgen.

Ich habe dadurch viele Ängste verloren. Ich fühle mich so stark wie noch nie und dafür haben wir viele Hürden genommen. Ich habe keine Angst mehr in den Medien aufzutauchen oder eine Demonstration zu führen. Als Frauen wurden wir nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich bedroht, es hieß dann „das ist nicht gut für deinen Ruf“ oder „das ist gegen deine Ehre“. Auf den Vorwurf der Ehrlosigkeit haben wir Frauen im Februar 2020 mit dem „Blumen-Marsch“ geantwortet. Ihr findet Frauen auf Demos ehrlos? Dann wartet mal ab! Wir haben einfach das ganze Land mit Frauendemonstrationen geflutet. 

Es ging und geht dabei aber nicht nur um mich, sondern um mich und dich, um sie und ihn. Es geht um uns alle und wie wir ein Land aufbauen wollen, in dem sich niemand in so etwas einmischt. Ein Land, aus dem wir nicht auswandern wollen, in dem wir gut und gerne leben. 

Ihr hattet ganz lange gar keinen Namen, was sehr bezeichnend für die Tashreen-Bewegung ist. Später habt ihr euch „Enana Tashreen“ genannt. Warum?

Enana war eine Göttin bei den alten Sumerern. In der Mythologie steht sie symbolisch für eine sehr starke Frau –  das war unsere Inspiration. 

Was gibt dir Hoffnung auf einen wirklich politischen Wandel?Vor Oktober 2019 wollte ich einfach nur weg und auswandern. Aber mittlerweile ist das für mich keine Option mehr. Ich möchte dieses Land in ein Zuhause umwandeln. Ich habe keine Angst mehr, mich treibt die Hoffnung auf einen Wandel an. Und der wird kommen. Das hier ist unser letzter Kampf. Bereits jetzt ist nichts mehr wie früher. Wir haben ein Momentum der Identifikation für alle kommenden Generationen geschaffen. Wenn wir es nicht schaffen, die Veränderung zu bringen, dann wird es die nächste Generation