»Die Diktatur verstärkt rückschrittliches Denken«

Vor der Revolution war Khalil Publizist. Mit dem Aufstand gegen das Assad-Regime schloss er sich mit anderen Oppositionellen zur „Linken Koalition“ zusammen. Er heißt eigentlich anders, doch zum Schutz seiner Familie müssen sein echter Name und genauere Details zu seinem Beruf ungenannt bleiben. Ein Gespräch über Syriens Linke und das System Assad.

Wie erging es linken Parteien unter der Ba’ath-Partei?

Die Assad-Diktatur verfolgte unabhängige politische Parteien, was auch dafür sorgte, dass sich ihre Anhängerschaft dezimierte. Für Parteien gab es daher nur einen Weg: Sich der »Nationalen Fortschrittsfront« anzuschließen. Dem Bündnis, an dessen Spitze Assads Ba’ath-Partei steht. Dieser Block entstand bereits 1972, kurz nach der Machtübernahme Hafiz al-Assads. In den achtziger Jahren sind der »Fortschrittsfront« auch einige kommunistische Parteien beigetreten.

Diese Art der Unterwerfung unabhängiger Parteien hat sich für das Regime bewährt, da sie zur Fragmentierung der Opposition beitrug. Innerhalb der linken Parteien führte sie zu spaltenden Konflikten, vor allem zwischen Basis und Führung, denn die meisten einfachen Mitglieder waren dagegen, sich der Ba’ath-Partei zu unterwerfen. Natürlich standen sie alle unter einem erheblichen Druck – das Regime stellte sie vor die Wahl zwischen gnadenloser Verfolgung und dem Anschluss an die Fortschrittsfront. Und manche ergaben sich der Illusion, so vielleicht echte politische Arbeit leisten zu können. Doch tatsächlich haben sie so dem Regime in die Hände gespielt und ihre Politik des Inhaltes entleert.

Vor allem Traditionslinke im Westen halten die Ba’ath-Partei selbst für eine progressive Partei. Wie siehst du das?

Wenn diese diktatorische unterdrückerische Politik der Ba’ath-Partei fortschrittlich sein soll, dann brauchen diese europäischen Linken eine Debatte über ihren Fortschrittsbegriff.

Man muss verstehen, dass viele Handlungen des Regimes vor allem darauf zielen, einen bestimmten Anschein zu erwecken – eben den der Fortschrittlichkeit zum Beispiel. Doch das bedeutet nicht, dass dieser Anschein viel mit der Realität zu tun hat. Eine Diktatur zerstört die Fundamente der Gesellschaft. Diktatur bedeutet zum einen Korruption und zum anderen verstärkt sie rückschrittliches Denken in der Bevölkerung durch die Repression, die sie ihr auferlegt.

Würde eine fortschrittliche Partei so viele Gefangene und Gefängnisse haben? Das sind politische Häftlinge, die aufgrund ihrer Meinung eingesperrt wurden. Hinzu kommt, dass es keine innerparteiliche Entscheidungsfindung gibt – die Ba’ath-Partei ist durch das syrische Regime monopolisiert.

Das erwähnte rückschrittliche Denken wurde insbesondere in den ländlichen Gebieten noch weiter dadurch verstärkt, dass man sie völlig vernachlässigte. Schon unter Hafiz und verstärkt unter Bashar kam es gerade in diesen Regionen zu einem Erstarken der Autorität des Glaubens und der Religion. Und das sind nur einige wenige Beispiele.

Warum hat das Regime die Korruption, die so viele anklagten, nicht bekämpft?

Die Korruption kommt nicht aus der Bevölkerung, das Regime hat sie dem Land gleichsam übergestülpt: Es nutzt sie als Instrument, um die eigene Herrschaft zu festigen. Es hat dafür gesorgt, dass es Profiteure dieser korrupten Herrschaft gibt, die sie daher auch verteidigen werden. Die Existenz der Korruption ist ein Garant für das Fortbestehen des Regimes. So lange es Profiteure dieses Systems gibt, kann es sich Unterstützung sicher sein.

Du hast vor 2011 im Bereich der Publizistik gearbeitet?

Wir haben vor allem literatur- und sozialwissenschaftliche Studien sowie intellektuelle Diskurse zu veröffentlichen versucht…

… nicht einfach in einem Land wie Syrien.

Es war eine stete Auseinandersetzung mit den Zensurbehörden. Sie bestimmen, was du veröffentlichen darfst und ihre Mitarbeiter müssen sich an Richtlinien entlanghangeln. Doch selbst diese Zensoren hatten oft eine solche Angst davor, womöglich einen Fehler zu begehen, dass sie aus dieser Furcht heraus die Regeln noch einmal härter auslegten. Das illustriert Assads Herrschaft ganz gut. Bei vielen führte dies dazu, nur die Veröffentlichung harmloser Sachen zu beantragen. Manchmal kamen Genehmigungen viel zu spät, manchmal gar nicht. Manchmal hat es schon an einzelnen Sätzen gelegen, die ihnen nicht gepasst haben. Wenn uns eine Publikation verboten wurde, versuchten wir sie im Ausland unter anderen Namen zu drucken und dann ins Land zu schmuggeln. Kritische Bücher mit einem intellektuellen und politischen Mehrwert oder über das herrschende Regime zu produzieren, war eine gewaltige Herausforderung. Wir waren ständiger Beobachtung ausgesetzt und mussten regelmäßig beim Geheimdienst vorstellig werden. Es gibt einen heiligen Dreiklang von Themen über die nicht veröffentlicht werden durfte: Religion, Politik und Sex.

Was passiert mit einem Land, das seinen intellektuellen Diskurs unterdrückt?

Nun, was dann passiert, dürfte in den letzten Jahren mehr als deutlich geworden sein.

Warum hast du dich 2011 den Protesten angeschlossen?

Eine merkwürdige Frage: Das war nichts, worüber ich hätte nachdenken müssen! Auf allen Ebenen lehnte ich dieses Regime schon so lange ab. Alle oben genannten Gründe drängten mich dazu, an dieser Revolution teilzunehmen. Wenn ich nicht teilgenommen hätte, dann wäre ich nicht ich selbst gewesen. Ich hätte keine andere Position einnehmen können.

Andere Linke reagierten aber anfänglich durchaus verhalten.

Sie hatten eine so lange politische Depression durchlebt, dass diese plötzliche Gelegenheit sie regelrecht in eine Schockstarre versetzte. Wieder andere waren der Meinung, dass die politische Programmatik der sehr spontanen und diversen Revolution zu unklar sei. Es gab jene, die die Ansicht vertraten, dass eine Revolution ohne klares Programm keinen Erfolg haben könne. Absurderweise führte dies dazu, dass ausgerechnet diese linken Parteien, die sich ja anmaßen, „das Volk“ zu vertreten, wenn überhaupt völlig verspätet an der Revolution teilnahmen.

Hier gab es das grundsätzliche Problem, dass einige ein ganz anderes Verständnis von Revolution und andere Überzeugungen hatten. Ihre Ansichten waren meiner Meinung nach reaktionär. Trotz dieser diktatorischen und unterdrückerischen Situation, in der wir uns befanden, gab es Menschen, die zögerten, an irgendetwas teilzunehmen, und dann ganz sicher nicht an einer Bewegung gegen eine 50-jährige Diktatur.

Du kannst dir nicht vorstellen, wie das war: Während der Demonstrationen auf der Straße zu laufen. Es war eine Szenerie, die selbst uns in Erstaunen versetzt hat: „Ist es wirklich möglich, dass ich in diesem Land die Faust heben kann und nach Freiheit rufe?“

Hat die Linke somit ihre Legitimität verspielt?

Meiner Meinung nach hat in der momentanen Situation niemand auch nur annähernd Legitimation durch die Bevölkerung. Weder auf der Rechten, noch auf der Linken. Es gab Rollen, die hätten ausgefüllt werden müssen und viele haben das zu spät getan. Aber wir können nicht einfach sagen, dass „sie ihre Legitimität verloren“ oder ihren Raum, Einfluss zu nehmen, verloren haben.

Alle Kräfte, die noch vorhanden sind, haben noch eine Chance: Solange diese linken Gedanken Verbreitung haben, solange es Menschen gibt, die an sie glauben, und im Rahmen der Revolution arbeiten und die Gefängnisse voll sind von ihnen – seien es nun Individuen oder Parteianhänger.

Und das linke Gedankengut hat sich auch in der Bewegung niedergeschlagen, es gibt Linke, die zu Beginn der Revolution an den Lokalen Basiskomitees und in der lokalen Selbstverwaltung mitgearbeitet haben. Ich rede hier nicht unbedingt von Parteianhängern, aber von der „linken Idee“, und diese hatte durch sehr viele Personen Präsenz in der Revolution.

Du hast ja auch an der Gründung der Syrischen Linken Koalition teilgehabt. Was war der Grundgedanke dieser Koalition, ihre Ziele und Werkzeuge?

Die Koalition ist ein Zusammenschluss, um vor allem linke Kräfte und Individuen zusammenbringen, um ihre Rolle stärker herauszustellen. Die Ziele sind am Ende die Ziele der Revolution – wir standen mit den Forderungen des Volks nach einem Staat der Freiheit und Würde und waren der Meinung, dass auch die ökonomische Seite der Revolution und die Lebensverhältnisse der Menschen stärker Beachtung finden müssen.

Praktisch hieß das, dass wir Treffen und Sitzungen gemacht und an Demonstrationen teilgenommen haben. Auch gaben wir eine analytische Monatszeitschrift namens „Der Linke“ (Al-Yasari) heraus. Später hat sich dann auch die „Syrische Revolutionäre Jugend“ gegründet mit der wir kooperiert haben.

Anders als viele andere Kräfte standet ihr auch dem wachsenden Einfluss ausländischer Mächte von Anfang an ablehnend gegenüber.

Wir haben eine ausländische Einmischung abgelehnt und waren gegen die Militarisierung und Bewaffnung der Revolution. Wir wussten, dass das nicht unser Kampffeld oder das der syrischen Bevölkerung ist, sondern das Kampffeld des Regimes. Wir haben nicht daran geglaubt, dass eine ausländische Einmischung zum Besten der Menschen sein würde und die Richtigkeit dieser Annahme sehen wir derzeit.

Diese Misere begann mit dem Regime, welches von ausländischen Kräften unterstützt wird und später waren es auch Fraktionen der Opposition, die nach ausländischen Unterstützung verlangt haben, so etwa der Syrische Nationalrat. Die Zerstörung, die daraus folgte, sehen wir derzeit. Wir hatten zu Beginn der Revolution eine grundsätzliche Analyse der Denk- und Vorgehensweise des Regimes gemacht und wussten, wie das Regime mit dieser Revolution umgehen würde. Unterdrückung, Waffen und Milizen sind seine Instrumente.

Wie ist es euch nach 2011 ergangen?

Viele Mitglieder unserer Koalition oder der Revolutionären Jugend waren den gleichen Einschränkungen ausgesetzt wie alle anderen, die für die Revolution in Syrien eingetreten sind: Verhaftungen, Folter, Vertreibung. Zu Beginn des Aufstandes hatte das Regime es auf die Zivilisten abgesehen, um die Revolution in einen militarisierten Konflikt zu führen. Wir wissen, dass genau deswegen die zivilen Aktivisten eingesperrt wurden. Das Regime wollte verhindern, dass es wirklichen zivilen Aktivismus gibt. Es gab irgendwann überhaupt keinen Raum mehr, um politisch zu arbeiten, wir mussten uns verstecken, andere wurden getötet. Heute fürchten wir uns um jene, die noch immer in Syrien sind.

Was bleibt von der Revolution?

Die Menschen. Jene, die an der Revolution teilnahmen und überlebt haben stehen weiter zu den Forderungen, die wir ganz am Anfang auf die Straße trugen. An ihnen halten wir fest, trotz der extremen Gewalt.

Wenn wir uns den extremen Bedeutungsgewinn des Fundamentalismus ansehen, glaubst du, dass sich dieser Geist wieder in die Flasche drängen lässt?

Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Kräfte ohne all ihre ausländischen Financiers nicht annähernd so stark wären, wie sie es heute sind. Die Dschihadisten sind kein Grundelement der syrischen Gesellschaft oder der Revolution gewesen. Wir haben durchaus sehr religiöse Gemeinschaften, aber diese sind nicht radikal. Doch so lange die Situation in Syrien so bleibt wie sie ist, so lange so viel Blut fließt, so lange werden die radikalen Kräfte noch stärker werden. Und selbst wenn die ausländischen Geldflüsse abbrechen würden, so wären diese Akteure morgen natürlich nicht verschwunden, doch sie würden an Bedeutung einbüßen.

Doch die Stimmen die man heute hört sind entweder die des Regimes oder die der Radikalen. Dabei hat das Regime selber daran teilgehabt, die radikalen Kräfte zu stärken – durch die Zellen, die das Regime schon im Irak und an anderen Orten genutzt hatte. Und es war das Regime, welches 2011 als allererstes die radikalen Kräfte aus den Gefängnissen entlassen hat. Diese haben dann die fundamentalistischen Gruppen gegründet.

Die dominante Rolle, die sie heute einnehmen, fällt ihnen aber nur zu, weil sie die Schlachtfelder beherrschen. Die zivilen Kräfte gibt es noch immer – doch solange du mit all dieser Gewalt konfrontiert bist, wie kann da das zivile Gesicht des Revolution wieder zum Vorschein kommen?

Interview: Jan-Niklas Kniewel