Die gefährdete Revolution – Medico International zu häufig gestellten Fragen

Medico International ist seit Beginn Unterstützer des Projektes Adopt a Revolution. In einem sehr detaillierten Text gibt medico Antworten auf die wichtigsten Fragen, die immer wieder zu Syrien gestellt werden. Hier können Sie wichtige Auszüge aus dem Text lesen, alle Fragen und Antworten finden sie auf der medico Webseite: Die gefährdete Revolution – Antworten auf häufigste […]

Medico International ist seit Beginn Unterstützer des Projektes Adopt a Revolution. In einem sehr detaillierten Text gibt medico Antworten auf die wichtigsten Fragen, die immer wieder zu Syrien gestellt werden. Hier können Sie wichtige Auszüge aus dem Text lesen, alle Fragen und Antworten finden sie auf der medico Webseite:

Die gefährdete Revolution – Antworten auf häufigste Fragen unserer UnterstützerInnen

I. Warum unterstützt medico die syrische Demokratiebewegung?

medico arbeitet seit Jahrzehnten im Nahen Osten und steht seit langem Partnern in Palästina, in Israel, in Ägypten, in Kurdistan (Irak) und im Libanon zur Seite. Wir leisten in unserer Projektpraxis Solidarität und Hilfe für Kriegsopfer, Flüchtlinge und Ausgeschlossene und setzen uns zugleich mit den Verhältnissen auseinander, die Krieg, Ausgrenzung und Vorenthaltung demokratischer Rechte hervorbringen.

Syrien spielt nicht nur im israelisch-palästinensischen Konflikt, sondern in den politischen Auseinandersetzungen des Nahen Ostens eine zentrale Rolle – entsprechend wird sich in Syrien die Zukunft dieser Region mitentscheiden. Auch in der syrischen Diktatur gelten die gleichen falschen Wahrheiten, wie sie in allen anderen arabischen Staaten so lange exekutiert wurden: Besser Autokratie und Gewalt als Demokratie; lieber Sicherheit und Kontrolle statt Freiheit; und besser formal weltlich-säkular als konfessionell – auch wenn das Land selbst von einer religiösen alewitischen Minderheit kontrolliert wird. Seit mehr als vierzig Jahren waltet in Syrien eine Einparteienherrschaft, die zwar verhältnismäßig weniger blutig agierte als das überkommene Baath-Regime im Irak, die aber die Gesellschaft erschöpfte und durch mafiotische Machtstrukturen systematisch ausbeutet sowie mit einer Kultur der Angst und des gegenseitigen Misstrauens durchsetzte. Wie der libanesische Journalist Samir Kassir einmal anmerkte, lebte die syrische Gesellschaft jahrzehntelang in einem permanenten Ausnahmezustand, dessen repressiver Charakter in der arabischen Welt nahezu beispiellos dasteht und der die Korruption der ehemaligen Sowjetrepubliken mit einer polizeilich überwachten Abschottung nach chinesischem Muster verbunden hat. Syrien ist die einzige arabische Republik, in der im Jahr 2000 eine dynastische Machtübergabe vom verstorbenen Präsidenten Hafez al-Assad an seinen Sohn Bashar al-Assad vollzogen werden konnte. Dieser Generationswechsel als familiäre Machtübertragung scheiterte bekanntlich in Ägypten, im Jemen und Libyen durch den Ausbruch des “arabischen Frühlings”.

Präsident Bashar al-Assad deregulierte mit seinem Amtsantritt den alten Wohlfahrtstaat und führte neoliberale Wirtschaftsformen durch. Diese Strukturanpassungen hatten nicht nur zur Folge, dass der öffentliche Sektor und damit traditionelle Versorgungsstrukturen des syrischen Staates abgebaut wurden, sondern die neu entstandenen Privatwirtschaft wurde zunehmend von einer räuberischen Elite der New Economy kontrolliert. Seit den 1960er Jahren ist der Wohlstand in Syrien nie so ungleich verteilt gewesen: Heute konzentrieren sich 50 Prozent des Reichtums auf nur fünf Prozent der Bevölkerung; dazu sind 30 Prozent der Bevölkerung arbeitslos und ca. 20 Prozent lebten bereits vor dem Ausbruch des Aufstands unterhalb der Armutsgrenze. Hier haben die Proteste ihre soziale Wurzel und sind daher auch eine Bewegung der Armen gegen die Privilegierten.

Unter der Herrschaft der Assad-Familie gibt es keine Staatsbürger, sondern nur syrische Untertanen. In ihren Gefängnissen herrschen Willkür und Folter; die „Schuld” der Gefangenen besteht oftmals nicht etwa darin, einer fremden Macht gedient zu haben, sondern schlicht und einfach das Regime abzulehnen. Nach Angaben von verschiedenen Menschenrechtsgruppen sind seit dem März 2011 mindestens 10.000 Menschen in Syrien im Zuge von Auseinandersetzungen getötet worden – mehrheitlich Zivilisten und Aktivisten der Opposition, aber auch mindestens 2.000 Polizisten, Angehörige von Sicherheitsdiensten oder der Armee. Zigtausende in Syrien haben ihre Häuser und ihre Habe verloren, sind auf der Flucht vor bürgerkriegsähnlichen Kämpfen oder vor der beginnenden konfessionellen Gewalt.

Die Hauptlast der Brutalität geht eindeutig auf Kosten der paramilitärischen Geheimdienstverbände des Regimes, doch zuletzt wurde auch vermehrt von Menschenrechtsverletzungen seitens oppositioneller radikal-religiöser Milizen berichtet, die etwa in der Stadt Homs Femegerichte einrichteten oder gezielt Mitglieder der alawitischen Glaubensgemeinschaft massakrierten.

In Syrien könnte sich die nächste Zukunft der arabischen Freiheitsbewegung entscheiden. Auch deshalb ist medico mit seinen begrenzten Möglichkeiten der Hilfe und Solidarität in Syrien engagiert. Zwar ist die arabische Welt innerhalb des letzten Jahres unwiderruflich “in das 21. Jahrundert eingetreten und söhnt sich mit ihrer Geschichte aus” (Elias Khoury), dennoch stehen die Zeichen auf Restauration, und besonders die Feudalmonarchen der Golfstaaten versuchen, durch die syrische Opposition endlich das von ihnen als weltlich verteufelte Regime in Damaskus zu Fall zu bringen. Die Revolution ist gefährdet und der demokratische Aufbruch einer ganzen jungen Generation von Aktivisten, unter ihnen besonders viele Frauen, droht in einer längst begonnenen Militarisierung zu ersticken.

IV. Was heißt es, wenn auf Demonstrationen in Syrien internationale Hilfe gefordert wird?

In Syrien wurden nach mehr als einem Jahr des Aufstandes der Ruf nach den Waffen und von außen initiierten “humanitären Korridoren” und “Flugverbotszonen” immer lauter. Aus einem zunächst unbewaffneten Widerstand ist an einigen Orten bereits ein brutaler Häuserkrieg zwischen den desertierten Milizionären der Free Syrian Army und den militärischen Sondereinheiten des Regimes geworden. Es ist eine Sache, sich als Menschenrechts- und Hilfsorganisation aus den oben bereits genannten guten Gründen prinzipiell auf den Gewaltverzicht zu berufen und militärische Interventionspläne abzulehnen; ein anderes Problem ist allerdings die auch bei manchen europäischen Linken vorhandene Unterstellung, dass all jene innerhalb Syriens, die unter den gegenwärtigen Bedingungen eine internationale Unterstützung einfordern, nur Teil einer prowestlichen-reaktionären Verschwörung seien.

Es ist sicher richtig, dass einzelne Akteure der Opposition besonders im Ausland von Beginn an eine saudisch-westliche Militärintervention gegen das Assad-Regime favorisierten und einige der heutigen “demokratischen Opposition” auf der Gehaltsliste arabischer oder US-amerikanischer Geheimdienste stehen. In Syrien selbst allerdings waren es vor allem die Heckenschützen des Regimes, die mit ihrer Brutalität viele Demonstranten erst dazu trieben, aus purer Verzweiflung die internationalen Gemeinschaft um materiellen Schutz und zuletzt auch militärische Hilfe zu bitten.

Den Protestierenden in Syrien sollte daher politisch und moralisch zugebilligt werden, dass sie weniger aus einem geostrategischen Machtkalkül heraus handeln, als vielmehr einem Impuls der Selbsterhaltung und des Überlebenswillens folgen. Natürlich geht dieser Wunsch mit einer klaren Zurückweisung der herrschenden Diktatur einher. Das Assad-Regime bietet jenseits aller rituellen Rhetorik vom „schlagenden Herzen Arabiens“, wie Syrien von Anhängern der Baath-Partei bezeichnet wird, seiner innenpolitischen Demokratiebewegung nicht viel mehr an als die blanke Demut gegenüber der herrschenden Ordnung.

Der Nahostkorrespondent Robert Fisk fragte unlängst im britischen Independent: „Die syrische Bevölkerung kämpft wie in Ägypten, Libyen und Jemen für die Würde, sich selbst zu regieren. Bashar al-Assad glaubt derweil immer noch, dass er dank seiner versprochenen Reformen das Schlimmste abwenden könne. Niemand außerhalb Syriens scheint zu glauben, dass er es schafft. Aber eine Frage wurde bisher nicht gestellt: Nur angenommen, das Regime würde überleben – über was für ein Syrien würde es herrschen?”

Schlussendlich: Es ist völlig richtig, dass die Situation in Syrien mehr umfasst als nur die Situation in Syrien – dass heißt, der innersyrische Konflikt wird seitens des Regimes und der Saudis gezielt und bewusst externalisiert und damit instrumentalisiert. Dieser Umstand darf aber nicht auf Kosten der Syrer selbst gehen. Jede entschiedene Kritik und politische Zurückweisung westlicher und saudischer Umsturzpläne muss daher notwendigerweise die Ablehnung der syrischen Gewaltherrschaft einschließen. Jede Kritik imperialer Herrschaft von Seiten einer sich progressiv verstehenden Linken muss mit der Ablehnung autoritärer Herrschaft einhergehen. Die Propagierung eines “Widerstand gegen den Imperialismus” zulasten einer ganzen Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe ist moralisch indiskutabel und wird zudem politisch scheitern. Eine solche Haltung kann mittelfristig nur ihr unbeabsichtigtes Gegenteil auslösen: So kann keine Perspektive der Freiheit verteidigt werden, sondern die bereits vorhandenen antiemanzipatorischen Tendenzen innerhalb der syrischen Opposition und der gesamten Region werden gestärkt.

V. Vorläufiges Fazit

medico bleibt weiterhin an der Seite derer, die sich für ein freies und sozial gerechtes Syrien einsetzen. Entsprechend wird medico diejenigen unterstützen, die auch zukünftig unbewaffnet und überkonfessionell für eine demokratische Gesellschaft in Syrien streiten; und damit weiter für eine dritte Handlungsoption stehen, jenseits der bloßen Unterwerfung unter die Macht und der inneren wie äußeren Militarisierung. Denn eine mögliche nächste Eskalation liegt offen auf dem Tisch: Die aufstrebende Hegemonialmacht Türkei erwägt entlang der gemeinsamen Grenze durch eine Pufferzone den Konflikt endgültig in einen zwischenstaatlichen Krieg zu transformieren. Und längst schon unterstützen die Feudalmonarchien des Golfkooperationsrates, die mächtigen Gegner jeder Demokratie und zugleich reaktionärsten Regime der arabischen Welt, die aufkommenden radikal-religiösen sunnitischen Freischärler in Syrien.

Bei aller Skepsis ist nur zu hoffen, dass im Zuge des Annan-Plans die Möglichkeit des demokratischen Protestes und massenhafter unbewaffneter Verweigerung gegen das Regime wieder ein neues Momentum bekommt. Die wöchentlichen und später täglichen Demonstrationen sind in den letzten Wochen auch deshalb zurückgegangen, weil viele der Aktivisten sich verstecken mussten, flohen oder humanitäre Nachbarschaftshilfe leisten. Diese junge Generation hat ihren Willen zur Freiheit erklärt, ob es ihr aber gelingen kann in mittelbarer Zukunft ein besseres Syrien aufzubauen, ist zur Zeit noch völlig offen.

Der französische Philosoph Gilles Deleuze schrieb einmal: „Heute ist es Mode, die Schrecken der Revolution anzuprangern. Das ist nicht einmal neu, die ganze englische Romantik ist voll von einem Nachdenken über Cromwell, das ganz analog zu dem über Stalin heute ist. Angeblich haben Revolutionen eine schlechte Zukunft. Aber dabei bringt man zwei Dinge durcheinander: die Zukunft der Revolutionen in der Geschichte und das Revolutionär-Werden der Menschen. Es sind einmal dieselben Leute in beiden Fällen. Die einzige Chance der Menschen liegt in einem Revolutionär-Werden, nur dadurch kann die Schande abgewendet oder auf das Unerträgliche geantwortet werden”. (Deleuze, Unterhandlungen 1972-1990)