Der Aufstand ist gescheitert, die Zukunft hat begonnen

Die Revolution ist zum bewaffneten Kampf geworden, den keiner mehr gewinnen kann. Doch während das Ausland das Chaos in Syrien weiter anheizt, schafft die Eigeninitiative der Betroffenen längst eine andere Zukunft. Kaum etwas ist vom Aufstand für Würde, Freiheit und Menschenrechte geblieben. An der friedlichen Protestbewegung, die für ihr Recht auf Selbstbestimmung demonstrierte, hat sich […]

Die Revolution ist zum bewaffneten Kampf geworden, den keiner mehr gewinnen kann. Doch während das Ausland das Chaos in Syrien weiter anheizt, schafft die Eigeninitiative der Betroffenen längst eine andere Zukunft.

Kaum etwas ist vom Aufstand für Würde, Freiheit und Menschenrechte geblieben. An der friedlichen Protestbewegung, die für ihr Recht auf Selbstbestimmung demonstrierte, hat sich ein blutiger Bürgerkrieg entzündet, der auch entlang ethnischer und konfessioneller Grenzen ausgetragen wird. Aus dem Gegensatz zwischen Assad-Regime und Aufständischen ist ein multipolarer Konflikt mit einer Vielzahl verschiedener Fraktionen geworden.

„Eins, eins, eins, das syrische Volk ist eins!“ war der hoffnungsvolle Slogan der unbewaffneten Revolte. Dieser verdeutlichte, dass bei den Protesten nicht eine Bevölkerungsschicht, eine Religionsgemeinschaft oder eine Ethnie auf die Straße ging. Alle sollten einbezogen werden. Ermutigt von den Ereignissen in Tunesien und Ägypten protestierten Hunderttausende, um das Assad-Regime nach über vierzig Jahren tyrannischer Herrschaft abzuschütteln. Die Zeit schien gekommen für ein Syrien der Freiheit, der Demokratie, das seine reiche kulturelle und ethnische Vielfalt als gemeinsamen Wert erkennt.

Heute sind die Parolen von damals Geschichte und der Traum eines freiheitlichen Syriens verblasst. Dabei blieb der Aufstand lange friedlich, auch wenn auf viele Demonstrationen ein Begräbnis folgte. Erst nach Monaten der unbewaffneten, brutal unterdrückten Proteste begannen sich die Menschen auf den Straßen zu schützen – auch mit Waffen. Desertierte Soldaten gründeten die Freie Syrische Armee (FSA), der sich viele anschlossen.

Der unbewaffnete Aufstand gegen das Regime der Unterdrückung wurde zur blutigen Auseinandersetzung, die sich radikalisierte und konfessionalisierte. Neben den Kampf der FSA gegen den Despoten sind längst zahlreiche andere Interessen getreten, die diesen Konflikt so kompliziert machen: Jetzt kämpfen Kurden gegen Islamisten, Islamisten gegen die säkulare Bevölkerung, die FSA gegen die Islamisten – aber teilweise auch mit ihnen gegen die Kurden. Und alle zusammen sind sie den Luftangriffen des Regimes schutzlos ausgeliefert. Der Kampf gegen Assad ist so in vielen Regionen Nordsyriens zum Nebenproblem geworden. Die AktivistInnen der Anfangszeit müssen sich jetzt vor der Unterdrückung durch Dschihadisten schützen. Diese strömen massenweise ungehindert über die Türkei ins Land, um dort kleine Gottesstaaten zu errichten.

Alle Facetten eines zerfallenden Landes treten immer deutlicher zutage. Schlimmer hätte sich der Aufstand in Syrien kaum entwickeln können. Und die Frage nach einem Gewinnen stellt sich nicht mehr – erst recht nicht für die zivile Bewegung.

Hier könnte die Analyse enden: Ein Aufstand, der als Fest der Demokratie begann und in einer Katastrophe stirbt.

Aber die Realität in Syrien ist anders, vielschichtiger – erst recht für die zivile Bewegung. Denn trotz aller Übermacht der Bewaffneten und trotz der allgegenwärtigen Tragödie, sind den Menschen im Land die neuen Erfahrungen nicht mehr zu nehmen: Das Gefühl der kollektiven Selbstermächtigung und der Wille zur Mitgestaltung haben sich in einer Bevölkerung festgesetzt, die jahrzehntelang nur Objekt, nicht Subjekt der Politik war. Und selbst wenn der zivile Bewegung nur noch eine untergeordnete Rolle in der Auseinandersetzung um den Präsidentenpalast spielt, ist ihr Einfluss nicht mehr zurückdrehbar. Die Zukunft der syrischen Gesellschaft hat im Lokalen begonnen.

Inmitten des Chaos, selbst dort, wo täglich Bomben fallen, kümmern sich die zivilen AktivistInnen nicht nur um das Überleben. Sie schaffen gesellschaftliche Strukturen: Sei es die Schule in Erbin, die genauso ohne Lehrbücher aus der Assad-Ära wie ohne Religionsunterricht auskommt. Oder die Bibliothek in den seit über einem Jahr umkämpften Vororten von Damaskus, wo sich die Menschen mit etwas anderem als der alltäglichen Gewalt beschäftigen können. Der Friedensmarathon, dessen LäuferInnen Wohngebiete verschiedener Religionen und Ethnien durchqueren; die unabhängige Stadtverwaltung, die trotz Beschusses für Wasser, Strom und Müllabfuhr sorgt.

Wie stark der Aufstand das Bewusstsein der Menschen geprägt hat, zeigt sich dort, wo es neue Formen der Unterdrückung gibt. Anstatt zu schweigen, riskieren AktivistInnen wieder ihr Leben, um den neuen Terror zu dokumentieren und zu kritisieren, etwa die Grausamkeiten der Dschihadisten im Norden des Landes.

Ihre Zukunft organisieren die SyrerInnen jetzt selbstständig. Zum einen, weil sie nicht wissen, wie lange der Konflikt andauern wird; zum anderen, weil sie inzwischen Gewissheit haben, dass die Hilfe der internationalen Gemeinschaft nicht mehr kommt. Lange genug haben Menschen in den abgeriegelten Vororten von Damaskus auf die humanitären Güter der großen Hilfsorganisationen gewartet. Doch nun sind es ihre eigenen Suppenküchen, die in solidarischem Austausch die Bedürftigen mit dem versorgen, was sie noch durch die Linien des Regimes geschmuggelt bekommen.

Es wäre fatal und würde die Zukunft Syriens aufgeben, würden wir mit der Analyse des verloren Aufstands enden. Als adopt a revolution haben wir die aktivistischen Gruppen an der Basis der syrischen Gesellschaft seit Anfang 2012 darin unterstützt, Verfolgte zu verstecken und die Verbrechen des Regimes zu dokumentieren. Als um sie herum alle zu den Waffen griffen, haben wir sie in ihren Projekten gegen eine Eskalation bestärkt. Und auch wenn die schwierige und widersprüchliche Lage die Zusammenarbeit grundlegend verändert hat, wollen wir weiter ihre Prozesse der Selbstorganisation stärken.

Mit lokalen Projekten arbeiten syrische AktivistInnen an der Zukunft ihres Landes. Es ist nicht die Zukunft geworden, die sie sich erstreiten wollten. Aber es ist die beste Zukunft, die sie noch erreichen können.

Helfen Sie mit, die Projekte der jungen syrischen Zivilgesellschaft zu stärken. Unterstützen Sie diese Zukunftsprojekte mit Ihrer Spende!

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Die Adopt a Revolution-Zeitung Diese Analyse ist in der neuesten Ausgabe der Adopt a Revolution-Zeitung erschienen. Sie können die Zeitung als PDF herunterladen und Exemplare zum Verteilen an FreundInnen und Bekannte bestellen. Schreiben Sie uns dazu einfach eine Email mit Ihrer Adresse an: info[ätt]adoptrevolution.org