Das Tor zu Damaskus: Das Stadtviertel Tadamon

Das Viertel Tadamon liegt im Süden der syrischen Hauptstadt und ist für das Regime strategisch besonders wichtig: Die Vororte von Damaskus bildeten seit 2011 das Herz des Aufstandes. Tadamon bildet hierbei den Übergang der Vororte in die Hauptstadt. Zwar zerbombt und ausgehungert wie die anderen Süddamaszener Viertel – z.B. Yarmouk -, erhält Tadamon keine mediale […]

Das Viertel Tadamon liegt im Süden der syrischen Hauptstadt und ist für das Regime strategisch besonders wichtig: Die Vororte von Damaskus bildeten seit 2011 das Herz des Aufstandes. Tadamon bildet hierbei den Übergang der Vororte in die Hauptstadt. Zwar zerbombt und ausgehungert wie die anderen Süddamaszener Viertel – z.B. Yarmouk -, erhält Tadamon keine mediale Aufmerksamkeit. Während sich die Situation in den anderen Vierteln kürzlich etwas verbessert hat und Hilfslieferungen hineingelassen wurden, profitierte Tadamon nicht.

 Das Damaszener Viertel Tadamon berichtet über den nicht endenden Schmerz und Tod

Ein Bericht von Sa´ad Khabiya für das alternative syrische Nachrichtenportal all4Syria.

Tod und Zerstörung gehen im Herzen von Damaskus wie andernorts ohne Gnade weiter. Dies gilt auch für Süddamaskus, insbesondere das Damaszener Viertel Tadamon, welches seit mehr als sechs Monaten einer erdrückenden Belagerung ausgesetzt ist. Die Tragödie hat hier ihren Höhepunkt erreicht. Das Viertel bleibt alleine in seiner Belagerung und dem langsamen Tod, da in den umliegenden Gebieten nun Waffenstillstände mit dem Regime geschlossen wurden. Deswegen befindet sich Tadamons Situation zwischen Drohungen und Einschüchterungen, der Fortsetzung des Beschusses sowie der Belagerung. Dem Tod, der auf die Bewohner_innen von allen Seiten wartet; schließlich der Unterschrift zu dessen Kapitulation, auf die das Regime setzt. Währenddessen ist das Viertel unter den Trümmern seiner zerstörten Häuser begraben.

Die Aussagen über das Thema Waffenstillstand, über welchen von Seiten der Freien Syrischen Armee (FSA) und dem Regime in Tadamon verhandelt wird, überlagern sich – trotz der Enthüllungen und Diskussionen, welche hier und da zum Rückzug der FSA-Truppen wie anderer Fraktionen gemacht werden. Die Angst vor der Bürde der großen Verantwortung und der Anklage, dass sie Damaskus übergeben und verkauft hätten, wiegt schwer, so der Mediensprecher der Gruppe „Tahrir al-Sham“, Abu Abdallah al-Haurani, im Gespräch mit all4Syria über die derzeitige Situation in Tadamon.

Abu Abdallah weist darauf hin, dass einige Bataillone sich gerne aus dem Gebiet zurückziehen würden. Aber er versichert auch, dass Tahrir al-Sham, welche zu den lokalen Bataillonen zählt, die Idee eines Rückzugs komplett ablehnt. Al-Haurani dementiert die Nachricht, die in einigen Foren verbreitet wurde: Dass zwischen Tahrir al-Sham, der Ababil al-Hauran-Brigade und ISIS auf der einen Seite und dem Regime auf der andere Seite eine Übereinkunft bezüglich des Rückzugs stattgefunden habe. Er weist darauf hin, dass es von Seiten der Brigade keinen Kontakt mit dem Regime gab. Allerdings könnte es möglich sein, dass ISIS solche Treffen abgehalten hat – aus dem Wunsch heraus, das Gebiet zu verlassen.

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Es scheint große Angst bei den in Tadamon verbliebenen Bewohner_innen vor einem plötzlichen Rückzug der FSA zu geben. Denn dies würde bedeuten, dass die schiitischen Milizen der Abu Fadal al-Abbas-Brigade, die in der die Sayyida Zainab [Anm.: Ein schiitisches Heiligtum im Südosten von Damaskus, das von Wohngebieten umgeben ist.] umgebenden Region warten, in das Gebiet des benachbarten Tadamon und anderer Nachbarschaften in Süddamaskus eindringen. Die Angst besteht, dass es zu Massakern an den Bewohner_innen Tadamons kommen könnte. Somit tragen die Bataillone eine große Verantwortung. Abu Abdallah dementiert zudem, dass die Bewohner_innen den Abzug und die Auslieferung der FSA-Kämpfer_innen an das Regime gefordert hätten.

Al-Haurani ist weder gegen noch für einen Waffenstillstand. Dieser wäre immerhin eine Tür zu Nahrungsmitteln für die eingeschlossenen Familien, denn immer noch leiden die Einwohner_innen im Süden von Damaskus unter dem Joch der Belagerung. Folglich gibt es immer noch Hungertote: Weder Nahrung noch Medikamente kommen rein. Al-Haurani sieht eine Versöhnung mit dem Regime daher als eine unmögliche Angelegenheit an.

Der Medienaktivist Abu Muhammad aus Süddamaskus weist darauf hin, dass die Zahl der verbliebenen Bewohner_innen in Tadamon gering ist, nachdem fast 90% in andere Gegenden geflüchtet seien. In dem Viertel gebe es somit kein Gedränge mehr. Lediglich ab und an vernehme man die seufzenden Stimmen einiger Belagerter, unter den Trümmern ihrer einfachen Häuser und informellen Siedlungen. [Anm.: Die Ausfallstraßen aus Damaskus Richtung südliches Umland sind stark durch eher informelle Siedlungen geprägt.]

Tadamon wird als Tor zu Damaskus angesehen, welches das Umland von der Stadt trennt. Westlich grenzt das Viertel an Camp Yarmouk; die Viertel Babila und Yalda begrenzen es vom Osten; zum Süden hin ist es offen und im Norden wird es von den Vierteln al-Zahira und Daff al-Shauk begrenzt. Außerdem gilt Tadamon als eines der vielfältigsten Viertel, was die Bewohner_innen angeht. Vor der Revolution betrug ihre Zahl 200.000 Menschen, die ein sehr vielfältiges gesellschaftliches Gefüge hinsichtlich Tradition und Gewohnheiten ausmachen. Die große Mehrheit der Bewohner_innen sind Binnenflüchtlinge aus dem besetzten syrischen Golan, es sind Araber_innen und Türkmen_innen; der Rest stammt aus den Gouverneraten Suwaida, Idlib, Deir az-Zor und Daraa. Jene sind es, die den Kern der Revolution im Viertel bilden. Das gesellschaftliche Gefüge ist aber nicht auf jene Bewohner_innen beschränkt. Es gibt noch eine besondere Straße, welche überwiegend von Alawit_innen bewohnt ist und Nesrin-Straße heißt. Sie gehört strukturell zum Viertel. Nach dem Ausbruch der Revolution sei sie Ausgangspunkt für die Aktionen des Regime-Militärs geworden, ebenso das Zentrum für Verhaftungen und Folter Assad-feindlichen Bewohner_innen der umliegenden Viertel – so der Aktivist Abu Muhammad.

Abu Wissam al-Zu´bi, Direktor des „Medienbüros in Tadamon – Süddamaskus“, zeichnet ein düsteres Bild der humanitären Situation im Viertel. Er bezeichnet diese als Katastrophe. Die Möglichkeit, den Mangel an Nahrungsmitteln [durch die Belagerung] zu kompensieren, besteht aufgrund der fehlenden landwirtschaftlich nutzbaren Erde beinahe nicht. Das Viertel ist seit ca. 600 Tagen belagert, fast alle Dienste sind zum Stillstand gekommen. Der Strom ist seit annähernd sechs Monaten gekappt, Trinkwasser ebenso. Unterstützung gibt es für das Viertel nur geringfügig – insbesondere im Vergleich zu den belagerten Gebieten in der Nachbarschaft (Yarmouk, Yalda).

Die Belagerten des Tadamon-Viertels haben in letzter Zeit v.a. von einem Gemüse namens „Spatzenbeine“ gelebt, um am Leben zu bleiben. Dies blieb, nachdem man Katzen und Hunde zu sich genommen hatte – bis es davon schlicht keine mehr gab. Abu Wissam erklärt, dass es ein Kraut sei, was in dieser Gegend wächst, welches aber normalerweise selbst von den Tierherden aufgrund des bitteren Geschmacks zurückgelassen werde. Es muss zweimal gekocht werden, bevor dieser bittere Geschmack verschwindet; dann wird es mit etwas Öl und Gewürzen gemischt, falls diese vorhanden seien. Er fügt hinzu, dass die Ärzte der Gegend darauf hinwiesen, dass ein übermäßiger Konsum zu Leber- und Nierenversagen führe. Die Situation habe sich verschlimmert, nachdem es dem Regime gelungen war, die benachbarten Viertel (Yalda, Babila und Beit Sahm) zu einem Waffenstillstand zu zwingen. Das hat die Lebenssituation zu einer Krise verschärft, da Tadamon den Waffenstillstand abgelehnt hat.

Die Gesundheitssituation im Viertel ist ebenfalls sehr schlecht: Alle Krankenhäuser und Praxen haben die Arbeit eingestellt. Es gibt kein ausgestattetes Feldkrankenhaus. Nur einige Ärzte und Krankenschwestern arbeiten im einzigen medizinischen Notfallpunkt, unter nahezu primitiven Umständen aufgrund des kompletten Mangels an Medikamenten wie medizinischen Geräten und der Beschränkung auf eine einzige Mahlzeit am Tag. Es wurde eine große Ausbreitung von Krankheiten festgestellt, die durch starke Mangelernährung ausgelöst werden, insbesondere bei Kindern. Außerdem gab es einen Anstieg von Gelbsuchterkrankten (Entzündung der Leber) zu verzeichnen.

Bezüglich der humanitären Hilfe erklärt Abu Wissam, dass in das Viertel überhaupt keine Hilfe hineingelassen werde, seitdem es seitens des Regimes belagert wird. Eine Ausnahme ist lediglich das wenige, was einige Individuen schmuggeln konnten. Aber das ist viel zu wenig.  

Abu Wissam al-Zu´bi weist auf die Paragraphen des Waffenstillstands hin, welcher den Bewohner_innen und der FSA seitens des Regimes angeboten wurde – welchen er als „Kapitulationsscheck“ beschreibt. Die Paragraphen beinhalteten eine kollektive Versöhnung für jene Bewohner_innen des Viertels, die das möchten. Wobei die Kämpfer_innen sich mit ihren Waffen den „zuständigen Behörden“ auszuliefern hätten. Anschließend würde das Regime über das Schicksal des schuldigen oder unschuldigen Büßers entscheiden. Das Regime würde eine Amnestie für jene aussprechen, die ihre Waffen abgegeben haben, und ihre Zahl genau registrieren. Die Bataillone müssten ihre „schweren Waffen“ dem Regime übergeben. Das nun befriedete Gebiet müsse die offizielle syrische Flagge auf dem höchsten Punkt des Viertels hissen. Das Regime werde die Polizeiwache und ihre Verwaltungsgebäude wieder in Betrieb nehmen sowie die Einfuhr von Nahrungsmitteln und medizinischen Mitteln zulassen. Die Checkpoints an den Eingängen blieben bestehen.

Diese Offerte wurde von allen abgelehnt – so Abu Wissam. Die militärische Führung des Viertels, der Lokale Rat, die Aktivist_innen des Basiskomitees und des Medienbüros, die Bewohner_innen von Tadamon sowie die Binnenflüchtlinge der umliegenden Viertel hatten sich in der Moschee des Viertels versammelt. Dort wurde der Waffenstillstand offen für alle zur Abstimmung gestellt. Dies hat zur Ablehnung des Waffenstillstands in all seinen Paragraphen geführt. Dies natürlich unter Betrachtung, dass jeder, der über den Waffenstillstand spricht, nur sich selbst repräsentiert.

Das Viertel wird von einigen Militärbataillonen kontrolliert, welche vom „Zusammenschluss der Mujahideen von Tadamon“ repräsentiert werden. Dieser Zusammenschluss umfasst alle Bataillone, die im Viertel aktiv sind. Dessen Anführer „Abu Rida“ ist ein bekannter Einwohner des Viertels.

Der Lokale Rat, dessen Neuwahlen erst vor einem Monat stattgefunden haben, versucht, sich um die Belange des Viertels zu kümmern. Dabei leidet er aber unter Problemen zwischen verschiedenen Seiten sowie der fast kompletten Abwesenheit finanzieller Unterstützung – besonders im Vergleich mit jenen Beträgen, die den Nachbarschaften zukommen, so der Direktor des Medienbüros. Er meint, dass Tadamon fast vollkommen in den Medien fehle – dies trotz der enormen Wichtigkeit Tadamons als Damaszener Stadtteil, der inmitten der Hautstadt liege. Er sei die prioritäre Verteidigungslinie des Regimes. Außerdem fehlten den Brigaden und Bataillonen schwere, qualitative Waffen, trotz der Schwere der Kämpfe um das Viertel und der Wichtigkeit, die es für das Regime spiele.

Das arabische Original des Beitrags kann hier abgerufen werden. Übersetzung: Adopt a Revolution.

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