„Das tägliche Dasein – eine Reise zwischen Leben und Tod“

Im vierten Interview unserer Ausstellung “‘Wir bleiben trotzdem!’ SyrerInnen erzählen von 5 Jahren zivilem Aufstand”, erzählt Firas aus Talbiseh, wie er die ersten russischen Luftangriffe erlebt hat. In den letzten Tagen wurden hier auf dem Blog alle Interviews der Ausstellung veröffentlicht, die bis gestern auf der Kulturellen Landpartie im Wendland zu sehen war. Am 30. […]

Im vierten Interview unserer Ausstellung “‘Wir bleiben trotzdem!’ SyrerInnen erzählen von 5 Jahren zivilem Aufstand”, erzählt Firas aus Talbiseh, wie er die ersten russischen Luftangriffe erlebt hat. In den letzten Tagen wurden hier auf dem Blog alle Interviews der Ausstellung veröffentlicht, die bis gestern auf der Kulturellen Landpartie im Wendland zu sehen war.

Am 30. September 2015 bombardiert die russische Luftwaffe die Stadt Talbiseh im Nordwesten von Syrien. Wohnviertel, darunter Krankenhäuser und Bäckereien, werden in Schutt und Asche gelegt. Nach Beginn des Aufstands 2011 wurde die Stadt schnell zu einer Hochburg oppositioneller Kräfte.
Radikalislamistische Gruppen wie ISIS und die al-Qaida-Fraktion Jabhat al-Nusra gibt es dort nicht. Russland hingegen behauptet, die Stadt wegen dort herrschender Terroristen anzugreifen. Firas arbeitet für das Medienzentrum in Talbiseh. Zusammen mit anderen AktivistInnen dokumentiert er Menschenrechtsverletzungen vor Ort. Er erzählt von den Luftangriffen. Über sich und seine Zukunft in Syrien möchte er nicht reden.

Wie heißt du, wie alt bist du, wo lebst du? Was bestimmt deinen Alltag?
Ich heiße Firas, bin 28 Jahre alt und lebe in der Stadt Talbiseh, nördlich von Homs. Talbiseh gehört zu den Städten Syriens, in denen die Menschen gegen die Unterdrückung durch das Assad-Regime aufstanden und Freiheit und Menschenrechte für die SyrerInnen forderten. Die Antwort des Assad-Regimes auf die Demonstrationen war vernichtend. Das Assad-Regime bombardiert die Stadt seit den ersten Tagen der friedlichen Aufstände mit Fassbomben und schwerer Artillerie. Ununterbrochen. Bis heute wird die Stadt täglich bombardiert, jeden Tag sterben Menschen oder werden verletzt. Eine Katastrophe folgt auf die andere. Jeden Tag wartet der Tod auf die BewohnerInnen von Talbiseh. Das tägliche Dasein ist wie eine Reise zwischen Leben und Tod, eine Reise zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Für die Menschen von Talbiseh kann jeder Augenblick der letzte sein. Das gilt auch für mich. Das ist der Grundtenor meines Lebensgefühls.

Du warst dabei als die ersten russischen Luftangriffe Talbiseh trafen. Was passierte damals?

Das Bild, das Sie gerade vor sich sehen, ist eine Dokumentation. Eine Dokumentation eines Augenblickes in der Vergangenheit. Ein Augenblick voller Erinnerungen. Es war der 30. September 2015. Genau genommen war es der Morgen dieses Tages. Es war ein schöner Herbstmorgen, die Sonne schien strahlend, die Menschen gingen in die Stadt, um irgendwo Nahrungsmittel aufzutreiben. Denn aufgrund der Belagerung durch das Assad-Regime gibt es kaum noch welche hier. Plötzlich gab es eine immense Explosion. Die russische Luftwaffe bombardierte das Herz der Stadt, das voller Menschen war. Ich selbst war dort. Sehr nahe am Geschehen. Eine Bombe traf das ehemalige Postgebäude. Dieses Gebäude wird seit der Belagerung von freiwilligen Helfern genutzt, um Brot an die Menschen aus der Stadt zu verteilen. Es war ein erschütterndes Ereignis, denn die Explosion kam unerwartet. Es war der erste Tag der russischen Intervention in Syrien. Talbiseh ist eine der ersten Städte, die von der russischen Luftwaffe angegriffen wurden. In solch einem Moment gehen alle Gedanken durcheinander. Niemand weiß, was gerade passiert, niemand weiß, wo die Explosion stattfand. Der Rauch verhüllte die ganze Umgebung. Es war im ersten Moment unmöglich, den Ort der Explosion festzustellen.
Wie alle ging auch ich kurz darauf zum Ort, an dem die Bomben eingeschlagen sind. Scharen von Menschen standen um das Gebäude, das völlig zerstört war. Wir versuchten die unter den Trümmern liegenden Menschen zu befreien. Solche Momente sind unerträglich. Du denkst, deine Geliebten könnten unter den Trümmern vergraben sein. Tot, verletzt oder vermisst. Diese Momente waren für alle BewohnerInnen der Stadt traumatisierend. Wir sind so schnell es geht mit den Geborgenen zum Feldlazarett gerannt. Doch es war mit Asche bedeckt, überfüllt mit Verletzten. Die russische Luftwaffe hatte auf mehrere Wohngebiete der Stadt gezielt. Unter den Verletzten waren viele Kinder und Frauen. Die Menschen schrien und weinten. Viele suchten ihre Geliebten zwischen den Toten und Verwundeten. Die Zahl der Toten stieg in den nächsten Tagen auf 23, denn viele erlagen ihren Verletzungen erst in den darauffolgenden Tagen. Sie starben, weil wir keine Mittel hatten, ihnen zu helfen. Da die Stadt belagert ist, gibt es kaum Möglichkeit zur medizinischen Versorgung.
Für die BewohnerInnen von Talbiseh ist die Vergangenheit nur ein ferner Gedanke. Wichtiger ist die Gegenwart. Die Gegenwart ist der Moment der zählt; in dem man versucht, am Leben zu bleiben. Denn jeder Moment kann in dieser Situation der anhaltenden Bombardierungen und des barbarischen Krieges des Assad-Regimes und seiner Alliierten gegen die unschuldige Zivilbevölkerung der letzte sein. Dieses Bild vor Ihnen hält den Moment fest, der für viele der letzte Moment war.

Weiterlesen: Teil 1 | Teil 2 | Teil 3

Sie möchten die Ausstellung in Ihre Stadt holen? Sie kennen einen geeigneten Ort, der die Ausstellung präsentieren möchte? Dann schreiben Sie an info@adoptrevolution.org. Wir schicken Ihnen gerne eine Informationsbroschüre mit den Bildern und Interviews der Ausstellung zu.

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