Das Leben als Flüchtling & die Macht der Gerüchte – Presseschau 08. November 2014

Ein interessanter Artikel beschäftigt sich auf Alsharq mit der Lage syrischer Flüchtlinge in Jordanien und konzentriert sich dabei auf die jordanische Stadt Al-Mafraq, unweit des weltbekannten Flüchtlingslagers „Zaatari“. In Al-Mafraq hausen etwa hundert Menschen unter unwürdigen Bedingungen am Stadtrand, ausgestattet mit einigen Zelten der UNHCR, einem Wassertank und selbstgeschaufelten Löchern als Toilettenersatz. Während über Zaatari, […]

Ein interessanter Artikel beschäftigt sich auf Alsharq mit der Lage syrischer Flüchtlinge in Jordanien und konzentriert sich dabei auf die jordanische Stadt Al-Mafraq, unweit des weltbekannten Flüchtlingslagers „Zaatari“. In Al-Mafraq hausen etwa hundert Menschen unter unwürdigen Bedingungen am Stadtrand, ausgestattet mit einigen Zelten der UNHCR, einem Wassertank und selbstgeschaufelten Löchern als Toilettenersatz. Während über Zaatari, in dem mittlerweile über hunderttausend Menschen leben, regelmäßig berichtet wird, war seit 6 Monaten niemand mehr in Al-Mafraq. Aus Zaatari wurden sie weggeschickt, weil sie schon Familienangehörige in Jordanien hatten. Zwischen dem ausufernden Lager und den notdürftig zusammengezurrten Zelten liegen Welten, so gibt es keine sanitären Anlagen, keine Elektrizität und – keine Hoffnung. Sie sind die Vergessenen von al-Mafraq, da Hilfslieferungen hauptsächlich Zaatari oder privaten Einrichtungen zu Gute kommen.

Wie sieht die Lage im kleinen Wüstenstaat Jordanien aus? Vor dem Konflikt konnten SyrerInnen ohne Beschränkungen einreisen und arbeiten, mittlerweile ist das verboten. Geschäftsleute, die dennoch SyrerInnen einstellen, können dies nur illegal tun und laufen Gefahr, dass ihr Geschäft geschlossen wird. Meist müssen syrische Flüchtlinge für eine Unterkunft mehr zahlen als die Einheimischen. Sie sparen an Kühlschränken für den Sommer und Heizmöglichkeiten für den Winter, an Obst und Gemüse. Unterernährung, Mangelerscheinungen und unhygienische Verhältnisse führen zu katastrophalen Lebensbedingungen, welche vor allem für Kinder gefährlich werden. Ohne Kamm und Zahnbürste wachsen diese Kinder traumatisiert auf, kennen meist nichts als Krieg und Elend und haben vor langer Zeit zum letzten Mal – wenn überhaupt – eine Schule besucht.

Die Berichterstattung über Hilfsaktionen und die Lebensqualität syrischer Flüchtlinge konzentriert sich auf Vorzeige-Objekte, zu denen mittlerweile auch das Flüchtlingslager Zaatari zählt. Es ist wichtig, dass es funktionierende Aufnahmestellen gibt. Doch vergessene Fälle wie jene der Menschen in Al-Mafraq zeigen, dass eine falsche Wahrnehmung entstehen kann. Viele Flüchtlinge leider unter unzureichender Versorgung, fehlender psychologischer und physischer Betreuung und mangelnden Bildungschancen. So wächst eine Generation ohne Perspektive heran, die in Abhängigkeit von externen Hilfsleistungen lebt.

Die Heinrich-Böll-Stiftung hat eine spannende Analyse veröffentlicht, weshalb geflüchtete SyrerInnen im Libanon während der Präsidentschaftswahlen im Juni 2014 an die Urnen gegangen sind – obwohl sie die Wahlen als illegitim betrachteten. Bilder vom Gedrängel auf den Straßen sowie den Festlichkeiten vor der syrischen Botschaft wurden damals heftig diskutiert, da viele LibanesInnen unverständlich auf die große Teilnahme an den Wahlen reagierten. Einige SyrerInnen gingen zur Wahlurne, weil es ihr Wunsch war. Andere fürchteten vor ernsten Folgen, die durch mehrere Gerüchte gestreut wurden.

Eine essentielle Angst war jene vor dem Verlust der Staatsbürgerschaft. Ende 2013 machten Gerüchte die Runde, wonach in Damaskus an einem Gesetz gearbeitet werde, all jenen die Staatsangehörigkeit zu entziehen, die sich gegen das Assad-Regime betätigen. Während einer Sitzung des Parlaments im März 2014 sagte der syrische Innenminister, dass neue Ausweise ausgegeben werden sollen. Angesichts der Tatsache, dass die Kosten auf 28 Mio. Euro geschätzt werden und das Land sich in einer Wirtschaftskrise befindet, führte dies zu einer Steigerung der Angst. Im Mai schlug dann das Justizministerium vor, leerstehende Immobilien weiterzuvermieten, da deren BesitzerInnen das Land verlassen hatten. Gerechtfertigt wurde dies mit dem Leid vieler Binnenflüchtlinge. Der Plan sah vor, die Höhe der Mieten durch einen Ausschuss zu bestimmen, welcher die Mieten in einen speziellen Fond einzahlt, damit die EigentümerInnen später entschädigt werden können. Zentrale Fragen wie das Einverständnis der BesitzerInnen und die genaue Aufteilung der Mieteinnahmen wurden nicht erwähnt, weshalb viele syrische Flüchtlinge Angst vor gesetzlichen Enteignungen hatten.

Im Libanon selbst gingen Männer durch die syrischen Flüchtlingslager und fragten die EinwohnerInnen vor der Präsidentschaftswahl, für wen sie stimmen würden. Sie gaben sich als Mitglieder einer libanesischen Partei aus, welche Bashar al-Assad unterstützt. Ihre Anwesenheit zeugte ebenfalls von der Anwesenheit des Regimes.

Die verschiedenen Gerüchte haben bei einigen Menschen Gehör gefunden und gleichzeitig nachhaltig das Verhältnis zwischen syrischen Flüchtlingen und LibanesInnen gestört. Libanesische Parteien, welche gegen Assad Stellung bezogen haben, forderten eine Ausweisung aller Pro-Assad-Wähler. Viele MedienvertreterInnen und KünstlerInnen schlossen sich dieser Meinung an und fragten hierbei, wieso SyrerInnen als Flüchtlinge anerkannt werden sollten, wo sie doch augenscheinlich Bashar al-Assad unterstützen. In ihren Stellungnahmen wurden bemerkenswerterweise die Gerüchte und Drohungen gegen die Flüchtlinge weitgehend ignoriert.

Abdallah Kleido berichtet auf Damascus Bureau, wie der syrische Konflikt Familien auseinanderreißt. Sein Artikel handelt von einem jungen Pärchen, das ein Kind erwartet. Sie leben in Kafr Nabel (Kafranbel), welches seit langer Zeit von oppositionellen Kräften kontrolliert wird. Aus Angst vor Luftangriffen des Assad-Regimes und der Tatsache, dass der Eigentümer in ihre Wohnung einziehen wollte, verließen sie die bis dato weitgehend sichere Nachbarschaft und zogen um. Der Mann hatte alle Mühe, seiner Frau die Angst zu nehmen und sie in ihr neues Leben zu begleiten. Langsam gewöhnte sie sich an die Flugzeuge, welche über dem Viertel kreisten, ohne jedoch einen Luftangriff zu starten. Dies änderte sich am 25. September, als plötzlich eine laute Explosion zu hören war und das Nachbarhaus zerstört wurde. Das Paar floh daraufhin zu seiner Familie, um in Sicherheit alle weiteren Optionen abzuwägen. Dort lebte bereits der Onkel mit seiner ganzen Familie, was die Situation nicht einfacher machte. Wie sollte es weitergehen? Eine Rückkehr schloss seine Ehefrau komplett aus. Ihr einziger Lösungsvorschlag bestand darin, zu ihrer Familie zu ziehen, bis er ein sicheres Haus in einer ruhigen Nachbarschaft für sie und ihr Kind gefunden habe.

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