Demonstration gegen das Assad-Regime in Damaskus

Ausbruch aus der Unmüdigkeit

Die meisten ExpertInnen waren sich zu Beginn des Arabischen Frühlings einig: In Syrien hätten Aufstände keine Chance. Denn das Regime in Damaskus gilt neben Saudi-Arabien als die repressivste Diktatur des Nahen Ostens. Dennoch entwickelten sich ab März 2011 überall in Syrien zivile oppositionelle Projekte. Wie kam es dazu?

Demonstration gegen das Assad-Regime in Damaskus

Als der Prediger beginnt, für Präsident Assad zu beten, kann die Menge nicht mehr an sich halten. Erst werfen einige junge Männer dem Imam Schmähungen an den Kopf, dann vereint sich das wilde Durcheinander zu Sprechchören. »Alles ging durcheinander und draußen war alles voll von Sicherheitskräften, wie die Ameisen«, erinnert sich Hassan. »Wir drängten auf die Straße, untergehakt, damit nicht Einzelne herausgezogen werden.« Die Polizei schießt Tränengas, bekommt die Lage aber nicht mehr unter Kontrolle.

»Wie eine Welle zogen die Leute los, durch die Straßen bis zum zentralen Platz in Homs. Ich erinnere mich noch an unsere Parolen für Freiheit und Gerechtigkeit. Eine Frau, getragen auf den Schultern der Männer, gab die Parolen vor – und keiner wunderte sich darüber. Aber es war ja auch keiner in der Moschee, um wirklich zu beten. Die Moschee ist einfach ein Treffpunkt der Leute.«

Vom Handyvideo zum Medienzentrum

Irgendjemand muss das dokumentieren, denkt sich Hassan. Also legt er mit seiner Handykamera einfach los. Seine Aufnahmen schickt er seinem Freund Omar, der zu diesem Zeitpunkt im Ausland lebt. Ihn bittet er, das Material zu verbreiten, es Fernsehsendern zur Verfügung zu stellen und auf Facebook zu veröffentlichen. Das war im März 2011 in Syrien.

Auf die Dokumentation der Proteste folgte die Dokumentation der Repression: Medienaktivist Hassan Abu Noah in Talbiseh

Noch immer dokumentiert Hassan jeden Tag in seiner Heimatstadt Talbiseh, 20 Kilometer nördlich des zentralsyrischen Homs gelegen, was sich dort abspielt: Die regelmäßigen Bombardements syrischer und russischer Kampflugzeuge, Fassbombenabwürfe, die Folgen der Belagerung und weiterhin auch zivile Proteste gegen das Assad-Regime. Heute ist Filmen und Berichten für Hassan Berufung und Beruf zugleich. Ausgehend von einem Handyvideo, das er mit Hilfe eines Freundes auf sozialen Medien verbreitet hat, hat er im Lauf der Jahre ein Zentrum für unabhängige Dokumentation aufgebaut.

Der vorliegende Beitrag stammt aus der Broschüre “Diktatur. Krieg. Zivilgesellschaft” (PDF), die Sie bei uns bestellen können: info[ät]adoptrevolution.org
Das Zivile Zentrum Talbiseh bietet Workshops für BürgerjournalistInnen an und lehrt Interessierten den Umgang mit der Kamera und die Grundlagen faktentreuer Dokumentation. Immer wieder erscheinen Dokumentationen der Medienaktivisten aus Talbiseh in internationalen Medien. Hassan und seine MitstreiterInnen haben es geschafft, eine glaubwürdige Nachrichtenquelle zu etablieren, die nicht nur zur Information der Menschen vor Ort wichtig ist, sondern auch nach außen trägt, was den Menschen in der belagerten Region um Talbiseh widerfährt.

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Vision vom friedlichen Freiheitskampf

Auch in Atareb, einer Kleinstadt westlich von Aleppo, begann alles mit dem Aufstand von 2011: »Wir organisierten Proteste gegen das Assad-Regime, filmten die Demonstrationen und stellten sie ins Netz«, sagt Mohammed, der bis zur Revolution Maschinenbau studierte. Um den Aktionen mehr Struktur zu verleihen, schlossen sich die verschiedenen Gruppen junger Menschen zu einem Lokalen Koordinationskomitee (LCC) zusammen. »Anfangs organisierten wir Proteste, Streiks und zivilen Ungehorsam und berichteten darüber. Aber dann sind neue Aufgaben entstanden.«

Als der Krieg die Stadt erreicht – bis heute wird Atareb besonders heftig vom Assad-Regime bombardiert –, organisieren sie medizinische Hilfe, nach dem Rückzug des Regimes bieten sie politische Bildung an und stellen sich mit Aufklärungskampagnen gegen den wachsenden religiösen Einfluss. »Wir wollen eine pluralistische Gesellschaft, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Freiheit«, sagt Mohammed. »Dafür müssen wir den BürgerInnen eine aktive Rolle in der Gesellschaft einräumen, sonst funktioniert Demokratie nicht.«
Um stärker in die Gesellschaft hineinwirken zu können, gründen Mohammed und seine MitstreiterInnen in Atareb ein Zentrum für Zivilgesellschaft. Mohammed beschreibt die Strategie:

»Wir müssen die jungen Leute zusammenbringen, die noch außerhalb der Schubladen des Krieges denken können. Wir müssen die Zivilgesellschaft stärken, damit kein Vakuum entsteht, in das Radikale vorstoßen. Das läuft alles in unserem Zentrum zusammen. Dort können wir inmitten des Kriegs unsere Vision vom friedlichen Freiheitskampf weiter vorantreiben.«

Engagement gegen Hetze: Ein Aktivist übermalt Parolen dschihadistischer Kämpfer.

Die Müllabfuhr, Zusammenhalt und Partizipation

Was unter anderen Umständen Aufgabe der Stadtverwaltung wäre, beschäftigt in Daraa die AktivistInnen des Sila Centers. Zum Beispiel die Müllabfuhr. »Gemeinsam mit dem lokalen Verwaltungsrat haben wir ein Projekt für mehr Sauberkeit umgesetzt. Der Müll, der sich auf den Straßen türmte, war längst ein Gesundheitsproblem, es gab sogar Fälle von Typhus«, sagt Mohammed Fares, der Geschäftsführer des Zentrums.

Also spannten die AktivistInnen die BürgerInnen zum Müllsammeln ein – selbst die gewählten Mitglieder der Stadtverwaltung. »Der Müll geht alle an«, sagt Fares, der den BürgerInnen vermitteln will, dass es sich lohnt, kollektive Probleme kollektiv anzugehen. Zugleich verfolgte die Aktion das Ziel, den oft überforderten, schlecht ausgestatteten lokalen Rat dazu zu bringen, seine Arbeit zu machen, indem sie vorführt: »Seht her, es geht doch.«

Nach Mohammed Fares geht es bei derartigen Aufgaben aber auch darum, verlorenes Vertrauen zwischen Bevölkerung und Zivilgesellschaft wiederherzustellen: Das Wort »Aktivist« sei zwischenzeitlich ein Schimpfwort geworden, sagt Fares, »zum Synonym für Leute, die immer nur gegen alles sind, aber nichts umsetzen«. In den Jahren der militärischen Eskalation hat sich die Situation der Menschen in Daraa deutlich verschlechtert, was zu einer Vertrauenskrise zwischen Bevölkerung und zivilen Organisationen geführt habe. »Nur wenn NGOs und Initiativen etwas zur Verbesserung der Lage der Menschen beitragen, werden sie anerkannt.«

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Konfliktbewältigung durch Dialog

Während die AktivistInnen in Talbiseh, Atareb und Daraa mit ihren zivilen Zentren unter Bombardierungen und Belagerung arbeiten, ist es rund um das Mandela House in Qamishli diesbezüglich ruhiger – ein günstiger Faktor für die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Initiativen. Dafür ist die Stadt und ihre Umgebung ethnisch und konfessionell betrachtet eine der vielfältigsten Regionen Syriens: Hier leben KurdInnen, AraberInnen, ArmenierInnen, AssyrerInnen und noch einige weitere Bevölkerungsgruppen.

Ein “Runder Tisch” im Mandela House im kurdischen Qamishli.

»Natürlich waren sich immer alle bewusst, dass es ›Andere‹ gab, aber vor dem Aufstand 2011 hatten wir kaum Umgang untereinander, weil das Assad-Regime eine Kultur der Angst zwischen den sozialen Gruppen säte,« sagt Leyla aus dem Leitungsteam des Mandela House. Als sich während der Revolution die Sicherheitskräfte zurückzogen, drohten schon kleine Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen zu eskalieren.

»Wir arbeiten hier seit der Gründung unseres Zentrums im Jahr 2013 hauptsächlich an der Konfliktbewältigung. Der interkonfessionelle und interethnische Dialog ist zentral, denn nach 40 Jahren Diktatur haben wir das spalterische Denken noch nicht überwunden.« Layla und Ihre KollegInnen haben Runde Tische einberufen, WahlbeobachterInnen für die Kommunalwahl gestellt und ein »Friedensnetzwerk« gegründet.

Gewalt von allen Seiten

All diese positiven Beispiele zivilgesellschaftlichen Engagements dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, welchen immensen Schwierigkeiten und Gefahren zivilgesellschaftliche AktivistInnen in Syrien ausgesetzt sind: Einerseits der massiven Gewalt des Assad- Regimes und seiner Verbündeten – tägliche Luftangriffe, Hungerblockaden und Vertreibung – und anderseits Willkür und Terror seitens verschiedener bewaffneter Gruppen.

Finanzielle Unterstützung und Solidarität können der Marginalisierung der syrischen Zivilgesellschaft entgegenwirken. Ihre Spende kann vor Ort Strukturen unterstützen, mit deren Hilfe sich die Menschen mit friedlichen Mitteln gegen Diktatur und Dschihadismus zur Wehr setzen und die Voraussetzungen für Frieden schaffen.

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