Aleppo in der Feuerpause: “Und wir fordern noch immer Freiheit”

Analyse: Wenn die Waffen schweigen, können SyrerInnen Frieden schaffen

Zum fünften Jahrestag der syrischen Revolution sind die DemonstrantInnen in Syrien zurück auf der Straße. Obwohl die zivile Aufstandsbewegung in den letzten Jahren an Einfluss verloren hat, knüpft sie zur Waffenruhe unmittelbar an die ursprünglichen Formen und Slogans an. Damit qualifiziert sich die syrische Zivilgesellschaft für eine entscheidende Rolle im Friedensprozess und beim Wiederaufbau des […]

Aleppo in der Feuerpause: “Und wir fordern noch immer Freiheit”

Zum fünften Jahrestag der syrischen Revolution sind die DemonstrantInnen in Syrien zurück auf der Straße. Obwohl die zivile Aufstandsbewegung in den letzten Jahren an Einfluss verloren hat, knüpft sie zur Waffenruhe unmittelbar an die ursprünglichen Formen und Slogans an. Damit qualifiziert sich die syrische Zivilgesellschaft für eine entscheidende Rolle im Friedensprozess und beim Wiederaufbau des Landes. Eine Analyse.

Fast auf den Tag genau fünf Jahre nach den ersten Demonstrationen in Daraa und Damaskus, treffen bei einem neuen Versuch von Friedensgesprächen in Genf die Delegationen der verschiedenen Seiten wieder aufeinander. Der Syrien-Sondervermittler de Mistura gibt das Ziel von freien Wahlen unter UN-Aufsicht innerhalb von 18 Monaten aus. Doch bisher haben die internationalen Entwicklungen und die (fehlenden) Aktivitäten der internationalen Gemeinschaft die Menschen im Land jedesmal enttäuscht: Es ist die dritte Syrien-Verhandlungsrunde, die nach der Schweizer UN-Stadt benannt ist, doch die Lage im Land ist in den letzten fünf Jahren kontinuierlich eskaliert.

"Stoppt den Mörder. Nieder mit Assad."
“Stoppt den Mörder. Nieder mit Assad.”
Nun verbreiten die Genf III-Friedensgespräche vor allem dadurch Hoffnung, dass sie überhaupt stattfinden. Die überraschende Einigung auf eine Waffenruhe – auch das nicht die erste – macht die Verhandlungen erst möglich. Die Brüche der Feuerpause sind zwar eklatant. Insbesondere im Norden und im Zentrum Syriens halten russische und syrische Luftangriffe an. Aber noch halten alle Seiten die Verletzungen der Vereinbarung für zu gering, um sie landesweit aufzukündigen. So erleben viele Menschen im Land derzeit eine Ruhe, die sie teilweise seit Jahren nicht kannten, weil insbesondere die Gewalt geringerer Intensität in weiten Teilen Syriens deutlich zurückgegangen ist. Feuerpause und Verhandlungen stehen auf töneren Füßen. Erst Mitte Februar wurden die Gespräche abgebrochen, weil die russische Luftwaffe antrat, die Reste von Aleppo in Schutt und Asche zu bomben, um der Assad-Armee die Einkesselung der Stadt zu ermöglichen.

Auch viele andere Punkte auf der Ebene der internationalen Politik sprechen nicht für eine schnelle positive Entwicklung in Syrien: Die zunehmende Abriegelung Europas gegen Flüchtlinge, der sich zuspitzende Konflikt der Türkei mit der kurdischen Bevölkerung, die weiterhin gewaltige Ausdehnung der Terrororganisation „Islamischer Staat“, die gezielten Angriffe der russischen Luftwaffe auf medizinische Einrichtungen – um nur die zentralsten Elemente zu nennen.

Demo in Douma gegen das Assad-Regime und für Freiheit 11.03.2016
Demo in Douma gegen das Assad-Regime und für Freiheit 11.03.2016
Um die positiven Dinge in Syrien zu finden, müssen wir direkt auf die Menschen im Land schauen statt auf die große Politik. Nicht nur, dass die Waffenruhe den Menschen im Land eine Ruhepause inmitten des jahrelangen Krieges verschafft, zugleich nutzen sie im ganzen Land den entstandenen Freiraum für neuerliche Demonstrationen gegen die Diktatur. Das ist das eigentliche Zeichen der Hoffnung: Trotz fünf Jahren voll gewaltsamer Unterdrückung, trotz jahrelangen Versuchen, die syrische Gesellschaft in die Bewaffnung zu treiben und eine ethnische und konfessionelle Spaltung voranzutreiben, trotz der gewaltigen humanitären Katastrophe, halten zivile AktivistInnen an den grundsätzlichen Zielen und Mitteln ihrer Revolution fest: Freiheit, Würde und Menschenrecht wollen sie erreichen – und das mit zivilen Protesten gegen die Diktatur.

Zwar macht sich sicherlich keiner der zivilen AktivistInnen mehr die Illusion, allein mit Protesten die Gewalt zu beenden und das politische System grundlegend zu verändern. Doch weder die Gewalt des Assad-Regimes noch der dschihadistische Terror haben es vermocht, die Menschen von den ursprünglichen Mitteln ihrer Proteste zu entfremden.

Maarat al Noaman, Syrien
Maarat al Noaman, Syrien
„Wir haben keine Angst mehr!“ und „Das Volk will den Sturz des Regimes!“ – das sind die Slogans die im März 2016 noch genauso auf Demonstrationen gerufen werden, wie im März 2011. Über fast fünf Jahre hinweg mussten wir von Adopt a Revolution dabei zusehen, wie der demokratische Aufstand nach und nach der Ernüchterung gewichen ist, dass das Assad-Regime gewillt ist, jeden zivilen Protest blutig niederzuschlagen. Doch jetzt, zum fünften Jahrestag des Aufstands können wir sehen, dass es der exzessiven Gewalt nicht gelungen ist, den Wunsch nach einem gesellschaftlichen Neuanfang auf der Basis von Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechten zu zerstören.

Erst die nächsten Tage und Wochen werden zeigen, ob die Verhandlungen in Genf Syrien einem Friedensprozess näher bringen. Zugleich haben die zivilen Proteste während der bisherigen Waffenruhe gezeigt: Wenn der Wiederaufbau staatlicher Strukturen und ein gesellschaftlicher Ausgleich irgendwann erfolgreich sein sollen, dann werden die lokalen zivilen Strukturen dabei eine zentrale Rolle spielen müssen. Nun gilt es, die Bedingungen dafür herzustellen, so dass die ursprünglichen Ziele des syrischen Aufstands wieder in erreichbare Nähe rücken.

Während der Waffenruhe knüpft die zivile Aufstandsbewegung mit friedlichen Demonstrationen an ihre Forderungen von 2011 an. Mit zivilen Projekten streiten AktivistInnen für ein freies, demokratisches Syrien mit Menschen- und Minderheitenrechten. Helfen Sie mit, unterstützen Sie die Projekte!

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