Aleppo, die vergessene Stadt? – Presseschau 10. Mai

In den letzten Tagen und Wochen stand Homs, die „Hauptstadt der Revolution“, im Fokus vieler Medienberichte. Wie Markus Bickel in der FAZ berichtet, konnten dort ungefähr 1500 verbliebene KämpferInnen, zusätzlich auch hunderte Zivilisten, die Stadt verlassen. Im Gegenzug werden (iranische) Gefangene freigelassen. Für Assad stellt dieser Umstand einen gewaltigen Propagandaerfolg dar: Bei der anstehenden Präsidentschaftswahl […]

In den letzten Tagen und Wochen stand Homs, die „Hauptstadt der Revolution“, im Fokus vieler Medienberichte. Wie Markus Bickel in der FAZ berichtet, konnten dort ungefähr 1500 verbliebene KämpferInnen, zusätzlich auch hunderte Zivilisten, die Stadt verlassen. Im Gegenzug werden (iranische) Gefangene freigelassen. Für Assad stellt dieser Umstand einen gewaltigen Propagandaerfolg dar: Bei der anstehenden Präsidentschaftswahl erhöhen Bilder von WählerInnen aus den „befriedeten“ Vierteln die Legitimität dieser Scheinwahl.

Was passiert in der Zwischenzeit in Aleppo? Francesca Borri versucht, auf al-Monitor aufzuklären. Der Bürgerkrieg sei in Aleppo mittlerweile so vertraut, dass Mülltonnen die Frontlinien markieren und gleichzeitig als Torpfosten für improvisierte Fußballspiele herhalten. Scharfschützen „arbeiten“ in Schichten. Sie gehen am frühen Morgen mit einem Kaffee in der Hand zu ihrem „Arbeitsplatz“. In Aleppo seien zivile Opfer nicht mehr Kollateralschäden, sondern das Ziel. Assad habe realisiert, dass keine Bodengewinne möglich sind. Folglich werde versucht, die verbliebenen KämpferInnen mit Bombardements und Belagerungen zu unterwerfen. AktivistInnen berichten, dass es sich nicht mehr länger um einen Kampf handele, sondern um Mord. Die Stellungen der Rebellen und Loyalisten sind so nahe beieinander, die Fassbomben so ungenau, dass sich viele Familien daher direkt an den Frontlinien angesiedelt haben.

Eine zusätzliche Frontlinie stellt weiterhin der Kampf zwischen verschiedenen Rebellengruppen und ISIS dar. Das ISIS-Hauptquartier wurde bisher noch nicht attackiert, obwohl es eher isoliert gelegen ist und ein rechtmäßiges Ziel darstellt. Kriegsjournalisten, welche sich normalerweise in der Nähe von Zivilisten, Krankenhäusern und Märkten aufhalten, suchen daher in Aleppo die Nähe zu den Stellungen der ISIS. Gerüchte über eine Zusammenarbeit zwischen ISIS und dem Assad-Regime machen die Runde. Obwohl viele Medien von einer Offensive der Rebellen sprechen, versucht man in Aleppo schlicht, den nächsten Tag zu erreichen. In der Theorie sind die unterschiedlichen Rebellengruppen Syriens weniger fragmentiert, da sie sich gegen ISIS und das Regime zusammengeschlossen haben. In der Praxis erfährt man jedoch lediglich über Facebook, was in den anderen Gebieten Syriens passiert. Dieser Umstand stellt die wahre Fragmentierung der Revolutionäre dar. Der Waffenstillstand, welcher in Homs durchgeführt wird, könnte auch die müden Rebellen in Aleppo ansprechen. Es ist die Einsicht aufgekommen, dass die Revolution mit Waffen nicht durchsetzbar ist.

Orwoa Kanawaiti berichtet auf al-Monitor über die Anstrengungen der Kinder in Aleppo, weiterhin zur Schule gehen zu können. Inoffizielle Umfragen von AktivistInnen ergaben, dass die Hälfte der Stadt sowie umliegende Schulen stark beschädigt oder zerstört wurden. Nach der Schließung von Schulen in den meisten Vierteln versuchten zivile Jugendorganisationen sowie AnwohnerInnen, die Bildungseinrichtungen wieder aufzubauen. Der Unterricht wird größtenteils durch Freiwillige geführt, darunter ehemalige LehrerInnen, welche nicht bezahlt werden, sowie Universitätsstudierende. Mit Hilfe von UnterstützerInnen sowie europäischen Organisationen war es möglich, materielle Unterstützung zu erhalten. Ein weiteres Problem stellt das Schulsystem dar, welches über einen langen Zeitraum von der Baath-Partei geprägt wurde. Viele UnterstützerInnen versuchen, ihre eigenen Überzeugungen in den neuen Lehrplänen zu verankern. Eine Alternative zu den neuen Einrichtungen stellen Moscheen dar, welche Arabisch und Englisch sowie das Lesen des Korans unterrichten. Aufgrund anhaltender Evakuierungen schwankt die Zahl der SchülerInnen.

Durch den Bürgerkrieg bedingt suchen die Kinder beim Betreten und Verlassen der Schule zuerst den Himmel nach Flugzeugen und Hubschraubern ab. Die Auswirkungen des Konflikts sind auch auf psychischer Ebene erkennbar. Bei der Kunstausstellung einer Schule präsentierten die SchülerInnen Zeichnungen, welche Fassbomben, Flugzeuge, Raketen und zerstörte Häuser darstellen. Trotz der Vernachlässigung des Bildungssystems versuchen AktivistInnen, die Kinder von den Folgen des Konflikts abzuschirmen. Die Bildung besitze dabei das größte Potential, Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen wie religiösen Gruppen zu fördern. In einem Land, das durch Krieg und Hass geprägt ist, kann Bildung die einzige Hoffnung auf eine friedliche Zukunft darstellen.

Miriam Abdullah berichtet für Damascus Bureau über die Verhältnisse von Waisenkindern in Damaskus. Viele Kinder haben durch den Bürgerkrieg ihre Eltern verloren. Andere Eltern können ihre Kinder nicht mehr ernähren und haben sie daher ausgesetzt. Waisenhäuser nehmen allerdings ohne einen entsprechenden Polizeibericht sowie gründliche Untersuchung keine Kinder auf. Sie haben Angst, dass es sich hierbei um Kinder von „Terroristen“ handelt, ein Begriff, welcher vom Regime für die Rebellen benutzt wird. Kindern, die an der Front des Bürgerkrieges leben, ergeht es nicht besser als den Obdachlosen in der Hauptstadt. Nach Angaben der UNICEF haben die meisten Schulen massive Zerstörungen erlitten, während fast fünf Millionen Kinder durch den Konflikt direkt oder indirekt betroffen sind. Mehrere Berichte von Human Rights Watch legen nahe, dass syrische Kinder von Regierungstruppen gefoltert oder von Oppositionsgruppen rekrutiert werden, um mit diesen zu kämpfen.

In Damaskus sind rund 20 staatlich geführte Unterkünfte für Binnenvertriebene entstanden. Seitdem fungieren diese Zentren als Schulen, während der syrische rote Halbmond, zivile und religiöse Organisationen alternative Bildungsaktivitäten wie Kunstunterricht oder Theateraufführungen organisieren. Die Bedingungen sind hierbei alles andere als ideal. Viele Kinder zeigen Symptome eines posttraumatischen Stresses. Einige leiden unter willkürlichem Einnässen als Folge der Angst, andere haben Alpträume und können nicht schlafen. Den obdachlosen Kindern geht es noch schlechter; sie unterliegen Ausbeutungen aller Art und müssen sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Zigaretten oder der Nahrungssuche in Mülltonnen verdienen. In mehreren Fällen werden sie zur Prostitution oder Kriminalität gezwungen.

Vyan Mohammad berichtet, ebenfalls für Damascus Bureau, über die bevorstehenden Kommunalwahlen in den kurdischen Gebieten Syriens. Momentan werde ein Wahlgesetz für die Regionalversammlung ausgearbeitet. Kurden, Assyrer und Araber erhielten jeweils 1/3 der Sitze im Kabinett und des gesetzgebenden Rates. Momentan gebe es eine Übergangsregierung, welche aus 100 Personen bestehe. Kommunale Einrichtungen, welche von der herrschenden Partei der Demokratischen Union (PYD) errichtet wurden, sollen ihre Arbeit fortführen, bis die Regionalversammlung aus eigener Kraft Gesetze verabschiedet. Die Verbesserung der Lebensbedingungen wird als eine der größten Herausforderungen angesehen. Die BewohnerInnen in dem Gebiet haben in der Vergangenheit unter schweren Energieengpässen gelitten, weshalb die Koordinierung mit Damaskus und Istanbul ausgebaut werden soll. Viele Menschen in Qamishli sehen die aktuellen Anstrengungen als erfolgreichen Testlauf für die Dezentralisierung und Demokratieförderung in Syrien. Kritiker dagegen beschuldigen die PYD, eine faktische Kontrolle aufrechtzuerhalten: Nichtsdestotrotz bleibe die Regionalversammlung dem syrischen Zentralstaat untergeordnet, da ihre Beamten durch das Regime bezahlt werden.

Mit der Lage in den kurdischen Gebieten Syriens und der Rolle der PYD beschäftigt sich auch ein aktueller Report der International Crisis Group (ICG). ICG betrachtet die aktuelle PYD-Dominanz in kurdischen Gebieten Syriens in mehreren Punkten als kritisch: Die Verflechtung mit der PKK habe auch in der PYD zu einem eher autoritären Führungsstil geführt. Zudem sei das syrische Regime in Syrien-Kurdistan immer noch präsent, was auf die vielfach spekulierte taktische Allianz von Regime und PYD zurückgehe. Drittens sei die regionale kurdische Rivalität zwischen PKK/PYD und den irakisch-kurdischen Kräften um Massoud Barzani ein destabilisierender Faktor für die Region, da dies regionalen Mächten wie der Türkei und Iran Spielraum für eigene Taktierereien ermögliche.

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