Hassan in Deir ez-Zor

AktivistInnen im Fünf-Sterne-Hotel – Reportage über Hassan aus Deir ez-Zor

Entspannt, aber sichtlich müde sitzt Hassan in der Bar eines Fünf-Sterne-Hotels in Gaziantep nahe der syrischen Grenze in der Südtürkei. Das Hotel hat erst vor kurzem eröffnet und deshalb noch nicht viele Gäste. Etwas verloren wirkt deshalb die Gruppe junger Menschen im überdachten Innenhof der renovierten Karavanserei. Sie unterhalten sich angeregt, aber die Stimmung ist […]

Hassan in Deir ez-Zor

Entspannt, aber sichtlich müde sitzt Hassan in der Bar eines Fünf-Sterne-Hotels in Gaziantep nahe der syrischen Grenze in der Südtürkei. Das Hotel hat erst vor kurzem eröffnet und deshalb noch nicht viele Gäste. Etwas verloren wirkt deshalb die Gruppe junger Menschen im überdachten Innenhof der renovierten Karavanserei. Sie unterhalten sich angeregt, aber die Stimmung ist ernst, gelacht wird wenig.
Galgenhumor kommt nur kurz auf, als der 25-jährige Hassan meint, den Anisschnaps könnten wir ruhig auf sein Zimmer schreiben lassen. Morgen verlasse er das Hotel und als geheimdienstlich bekannter syrischer Aktivist habe er ohnehin keinen gültigen Ausweis, den er an der Rezeption hätte hinterlegen können. In seinem ordentlichen karierten Hemd mit offenem Kragen sieht er eher wie ein Urlauber aus. Es ist nach Mitternacht und der erste Raki des Abends. Das Seminarprogramm, das die 20 zivilgesellschaftlichen Aktivisten aus Syrien absolvieren, ist eng.
“Junge Führungskräfte für Syrien” heißt der Workshop, veranstaltet von einer regierungsnahen, amerikanischen Stiftung. “Der Meinungs- und Gedankenaustausch ist uns wichtig”, erklärt Will, der Programmkoordinator. “Was trägt ziviler Widerstand zum Sturz Assads bei? Mit welchen politischen Kräften können wir zusammenarbeiten? Das diskutieren wir mit den Teilnehmern.”
Seine Institution wolle von den Aktivisten lernen, wolle Syrien besser verstehen. Die US Politik habe in der Vergangenheit im Nahen Osten riesige Fehler gemacht. Ziel sei deshalb, so etwas zu verhindern und den Austausch zu verbessern. Bevor er sich mit zwei Teilnehmerinnen an einen Nebentisch zurückzieht, bedauert Will noch, dass die Stiftung keine materielle Unterstützung bieten könnte. “Aber wichtig sind ja auch Kontakte, Vernetzung, Ideenaustausch. So stärken wir die syrische Revolution.”

Hassan im Freitag
Reportage über Hassan aus Deir ez-Zor in der Wochenzeitung der Freitag.
Deutlich nüchterner schätzt Hassan beim Raki den Workshop ein. Er hat schon an mehreren solcher Veranstaltungen teilgenommen, war in der Türkei, um über Minderheitenrechte oder Übergangsjustiz zu diskutieren, Medienarbeit oder Internetsicherheit zu lernen. Nach Gaziantep hat er sich einladen lassen, obwohl er amerikanischen Einfluss in Syrien sehr kritisch sieht. Denn bisher dachte Hassan, jedes Mal würden ihm neue Fähigkeiten vermittelt und er besser ausgebildet.
“Aber ich fange an zu bezweifeln, dass diese Lehrgänge überhaupt dazu da sind, dass wir etwas lernen. Es gab wieder nur Allgemeines”, winkt er ab, “nichts, was mir konkret bei meiner Arbeit helfen würde.” Immerhin hat er mit anderen Aktivisten diskutiert und ist mal wieder rausgekommen aus dem Chaos des zerstörten Deir ez-Zor. Mit ironischem Unterton ergänzt er: “Zudem gehöre ich jetzt zu den ‘Führungskräften’ der Revolution.” Dann erzählt er ruhig und unaufgeregt von seinen bisherigen Aktivitäten.

Die Lage wird immer auswegloser

Als Agraringenieur-Student war er schon politisch aktiv, bevor im März 2011 der Aufstand gegen die Assad-Diktatur begann. Mal fragte er im Staatskundeunterricht kritisch nach, mal verteilte er Flugblätter gegen Korruption. Zwar wurde er deswegen auch vom Geheimdienst befragt und beobachtet. Doch zum hochmotivierten Aktivisten wurde er erst, als es an der Universität die ersten Demonstrationen gab.
Wie alle in der von ihm gegründeten Studierendengruppe fing er an, Pseudonyme zu verwenden und jede Nacht woanders zu schlafen, um Festnahmen zu entgehen. Doch die lokale Gruppe reichte ihm nicht mehr aus, als die Regierung nach Monaten weiter allen Forderungen nach Demokratie und Freiheit mit äußerster Gewalt begegnete. Während die ersten Teile der Opposition begannen, sich zu bewaffnen, ging er einen anderen Weg: Mit Vertretern von Gruppen an anderen Hochschulen gründete er die landesweite Union der Freien Syrischen Studierenden.
Seine Mitstreiter in Aleppo und Damaskus, die er persönlich nie getroffen hat, stimmen Hassan darin zu, der Bewaffnung etwas entgegensetzen zu wollen. Als Koordinatoren war ihr Ziel, der Diktatur weiter Legitimität zu entziehen, indem sie zeigten, dass sich friedliche Demonstrationen und Aktionen nicht der militärischen Logik beugen würden. Das Netzwerk war schließlich erfolgreich mit der Strategie, die großen zivilen Proteste aus den Vorstädten auf den Campus zu holen, und damit das Regime direkt in den Zentren der Städte herauszufordern.
“Wir waren stark – aber nicht stark genug, um Bewaffnung und konfessionelle Spaltung zu stoppen”, erzählt Hassan und klingt resigniert. Seine Wohnung wurde von Mörsergranaten zerstört und als er den Angriff eines Panzers filmte, wurde ihm durch das Bein geschossen, einen Monat lang konnte er kaum laufen. Am eigenen Leib musste er auch erfahren, dass in Syrien nicht mehr allein das Assad-Regime für Angriffe auf zivile Gruppen verantwortlich ist.
Rebellenkämpfer haben ihn drei Wochen lang gefangen gehalten, um ein horrendes Lösegeld zu erpressen. Als er davon erzählt, kommt sein trockener Humor wieder durch: “Die dachten, wenn wir als Studentennetzwerk von ausländischen Organisationen unterstützt werden, bezahlt sicherlich jemand ordentlich für mich. Aber die haben sich ganz einfach getäuscht. Wir bekommen keine Unterstützung von außen, damals überhaupt nicht und inzwischen gerade mal genug, um Internet- und Telefonrechnungen zu bezahlen.”
Wenn er solche Anekdoten erzählt, ist Hassan anzumerken, dass er für die Revolution keinen feurigen Eifer mehr aufbringt. Die Erwartung der ersten Monate, der Sturz des barbarischen Regimes könnte jederzeit erfolgen, ist längst der Erkenntnis gewichen, dass die Situation immer komplizierter wird. Der Aufstand ist ihm fremd geworden, und doch geht es ihm darum, den weiteren Verlauf mit zu gestalten.

Ohne Sicherheit keine Hilfe, ohne Hilfe keine Sicherheit

Bei jedem seiner Aufenthalte in der Türkei hatte er die Chance zu bleiben, dem ausgebombten Deir ez-Zor den Rücken zu kehren, der Verfolgung und dem dauernden Konflikt mit den Radikalislamisten zu entkommen. “Ich habe doch keine andere Wahl”, begründet Hassen dann, warum er trotzdem wieder und wieder zurückgeht. “Wir haben diese Revolution angefangen, um Freiheit zu erlangen. Jetzt kann ich das Feld doch nicht den Islamisten überlassen und meine Heimat aufgeben. Ich muss einfach weitermachen und für ein besseres Syrien streiten.”
Über weite Teile des Landes, vor allem im Norden und Osten, hat das Assad-Regime die Kontrolle längst verloren. Selbst wenn hier die Luftwaffe noch angreifen, die Armee Orte zurückerobern kann: Die Baath-Diktatur wird hier nicht zurückkehren. Denn die Kontrolle über die Köpfe ist für sie keinesfalls mehr erreichbar.
Den säkularen, toleranten und demokratischen Staat, den Hassan und seine Mitstreiter sich wünschen, gibt es in diesen Gebieten jedoch nicht. Stattdessen besteht hier ein Nebeneinander aus zahlreichen bewaffneten Gruppen und Milizen sowie ersten Ansätzen von oppositioneller Selbstverwaltung auf lokaler Ebene. Erschwert wird die Lage noch durch den Mangel an öffentlichen Dienstleistungen und die allgegenwärtige wirtschaftliche Not. Etwa in Tall Abyad, der Stadt mit 15.000 Einwohnern direkt am Grenzzaun, aus der Schleuser Hassan in die Türkei gebracht haben.

Tall Abyad
Akram Dada, der Bürgermeister von Tall Abyad in seinem Büro.
“Die letzten Assad-Truppen wurden hier vor neun Monaten vertrieben”, berichtet Akram Dada, der Bürgermeister. “Aktuell haben wir ungefähr hundert verschiedene bewaffnete Gruppen hier.” Der hochgewachsene Mann um die 50 sitzt aufrecht an seinem Schreibtisch, hinter ihm an der Wand die grün-weiß-schwarze Revolutionsfahne mit den drei roten Sternen.
“Wir würden hier gerne Polizeieinheiten aufstellen, um eigene Handlungsmöglichkeiten zu haben.” Die fehlende öffentliche Sicherheit sieht er als sein dringendstes Problem an. “Denn nur wenn wir halbwegs Ordnung schaffen, können wir uns auch um die vielen anderen Punkte kümmern: Müllabfuhr, Strom- und Wasserversorgung, vielleicht die wirtschaftliche Entwicklung.”
Wenn er darüber spricht ist zu merken, dass er nicht recht weiß, wo er anfangen sollte. Ihm fehlen sowohl die Erfahrung, als auch die Mittel, um die Polizisten zu bezahlen. Schließlich lehnen die meisten Milizen eine öffentliche Polizeieinheit ab oder würden sich nur unter Bedingungen auf Sicherheitskräfte einlassen, etwa wenn sie islamisches Recht durchsetzen würden, wie es die radikalen Islamisten fordern. Ob denn nicht eine der internationalen Organisationen oder staatlichen Wiederaufbauprogramme mit Büros jenseits der Grenze in Gaziantep einmal bei ihm angefragt haben? “Nein, keine!” antwortet Dada ohne zu zögern.
Die fehlende internationale Hilfe ist in Tall Abyad und den befreiten Gebieten an jeder Ecke zu spüren: Das Gesundheitswesen ist aus Mangel an Medikamenten zusammengebrochen, Schulunterricht findet nur auf Eigeninitiative statt, wegen massiv gestiegener Lebensmittelpreise häufen sich die Berichte von Mangelernährung bei Kindern. Hinzu kommt, dass sich die Bevölkerungszahl in vielen Orten entlang der Grenze durch die Aufnahme von Binnenflüchtlingen nahezu verdoppelt hat. Doch ohne öffentliche Sicherheit auch keine internationalen Hilfsorganisationen.

130 Dollar für eine Nacht statt 100 Dollar für die Aktivisten

An der Hotelbar überlegt auch Hassan, was der Stand der Dinge ist. Das Regime sieht er nicht mehr als das größte Problem an: “An Assad glaubt bei uns sowieso keiner mehr. Es kann zwar noch dauern, aber den werden wir schon los.” Nur: Solange die Kämpfe anhalten und die Not groß ist, würden die Radikalen laufend an Einfluss gewinnen. Nach dem düsteren Ausblick versucht er Optimismus zu verbreiten: “Wir können uns nicht länger mit der Vergangenheit aufhalten, wir müssen an der Zukunft arbeiten. Im Kleinen können wir den Radikalen etwas entgegensetzen, wenn wir für Toleranz und Demokratie werben.”
Wegen dieser Erkenntnis hat er den Leitungskreis des Studierendennetzwerks verlassen und stattdessen in Deir ez-Zor die Gruppe Issham, zu deutsch: Beteiligung, gegründet. Angefangen haben sie mit Kursen für Jugendliche über demokratische Mitbestimmung und ihre letzte große Aktion war die Beobachtung der Wahlen zum Lokalrat, dem oppositionellen Stadtrat, der auf lokaler Ebene die Regierung ersetzten soll.
Es ist spät in der Nacht, als der Raki ausgetrunken ist. Hassan wirkt noch müder. Der Workshop im Luxushotel war anstrengend. Er schüttelt den Kopf: “Schau Dich mal um, wie wir hier wohnen: Jede Übernachtung kostet 130 Dollar. Hätten sie lieber ein Hotel für 30 Dollar gewählt und mir jeden Tag die übrigen 100 für unsere Arbeit gegeben.”
Am nächsten Tag endet das Seminar und bevor er wieder nach Syrien fährt, wird Hassan noch zwei Tage in der Stadt bleiben. Er will versuchen, eine Organisation zu finden, die seiner Gruppe etwas Geld geben kann. Zwei Wochen später, zurück in Deir ez-Zor, berichtet er enttäuscht via Skype, dass er nichts organisieren konnte. Mit ihrer Arbeit fühlten sie sich allein gelassen, die nächsten Projekte, hätten verschoben werden müssen. “Dafür bin ich schon zum nächsten Workshop eingeladen.”

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Dieser Text erschien in einer leicht veränderten Version unter dem Titel “Die Zivilisten sind müde” auch in der Ausgabe 30/2013 der Wochenzeitung der Freitag.