60.000 Tote in Syrien, Berichte aus Homs, Interview mit Michel Kilo, die Falle der Jabhat al-Nusra – Netzschau 04. Januar 2013

Diese Woche stellte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, aktuelle Analysen zu den Opferzahlen in Syrien vor (s. NZZ). Nach der Auswertung von sieben Quellen – sechs oppositionsnahen sowie Zahlen der Regierung – starben seit März 2011 fast 60.000 Menschen. Da die Zahlen nur bis 30. November 2012 reichen, seit April 2012 Zahlen der Regierung […]

Diese Woche stellte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, aktuelle Analysen zu den Opferzahlen in Syrien vor (s. NZZ). Nach der Auswertung von sieben Quellen – sechs oppositionsnahen sowie Zahlen der Regierung – starben seit März 2011 fast 60.000 Menschen. Da die Zahlen nur bis 30. November 2012 reichen, seit April 2012 Zahlen der Regierung fehlen und nur genau dokumentierte Todesfälle erfasst sind, ist zu befürchten, dass die wirkliche Anzahl der Toten weit höher ist. Die NZZ berichtet weiterhin von anhaltenden Kämpfen um Damaskus und um eine Flugbasis um Idlib.

Nach Berichten des schweizerischen Onlineportals 20 Minuten hat Erdogan Syrien erneut vor Angriffen auf die Türkei gedroht und auch die Möglichkeit eines Krieges offen gelassen. „Jederzeit sind wir mit allen unseren Möglichkeiten zum Krieg bereit“, so Erdogan bei einer Konferenz türkischer Botschafter. Der Libanon gerät auf Grund des anhaltenden Flüchtlingsstroms aus Syrien immer stärker unter Druck. Daher fordert das Land v.a. finanzielle Hilfe bei der Versorgung der wohl schon 200.000 Flüchtlinge im Land – bei einer Bevölkerung von ca. 5 Millionen. Die Assad-freundlichen Parteien des Libanon lehnen ein größeres Engagement für die Flüchtlinge ab, im Kabinett wurde sogar die Schließung der Grenze debattiert. U.a. aus humanitären Gründen bleibt die Grenze zu Syrien jedoch offen.

Wie sich private Initiativen im Kleinen um Flüchtlinge im Libanon kümmern, zeigt dw anhand des Vereins „Sarda“ in Beirut. Palästinenser, Syrer und Libanesen haben im Stadtteil Sabra einen Kindergarten gegründet, in dem derzeit 70 syrische Vorschulkinder betreut werden. Die Nachfrage ist jedoch viel größer.

Einblicke in die Situation in Homs geben zwei Berichte. Ein Blogger schildert in Homs Diary das dortige Leben zwischen Mitte November und Mitte Dezember 2012. Die Stadt ist beinahe täglich von Bombardements, Beschuss und Stromausfällen betroffen. Die humanitäre Lage verschlechtert sich, Brot wird knapper und verteuert sich ebenso wie alle anderen notwendigen Dinge. Ein Lehrer aus dem Viertel Al-Waer schildert für Global Voices die prekäre Lage in seinem Viertel. Die Bevölkerung von Waer sei auf 450.000 verdreifacht, viele Schulen Notunterkünfte, die Klassen überfüllt. Zudem müssten einige Flüchtlinge in unfertigen Gebäuden leben. Was sich im Laufe des Konflikts verändert hat: durch die schlechte humanitäre Situation ist zivile Hilfsarbeit einigermaßen vom Regime toleriert.

Die Presse berichtet, dass die Flüchtlingsströme nach Qamishli im kurdischen Nordosten nicht abreißen. Qamishli sei die einzige Großstadt Syriens, die nicht umkämpft ist und Sicherheit gewährleistet. Doch nur scheinbar: Wer in Qamishli strandet, kann weder in andere Teile Syriens zurück noch ins Ausland flüchten. Zudem wird die Politik der PYD geschildert, die einerseits mit dem Assad-Regime paktiert und ihre Vorstellungen rigoros in den Kurdengebieten durchsetzt.

In einem kurzen Interview mit Syria Deeply äußert der Oppositionelle Michel Kilo vorsichtige Hoffnungen für eine Verhandlungslösung. Er setzt allerdings kaum Hoffnungen auf die neue Nationale Koalition, da sie die syrische Gesellschaft zu wenig vertritt. Assad habe bislang vor allem wegen der ausländischen Hilfe durchgehalten, aber mit den Kräften, die sich derzeit vom Regime absetzen, sei vielleicht eine politische Lösung möglich. Den Einsatz von Chemiewaffen schließt Kilo nicht aus, denn Assad halte seinen Sieg immer noch möglich und gebe nichts auf Menschenleben. Eine Flugverbotszone hält Kilo jedoch unnötig, die Syrer könnten sich mittlerweile allein beschützen. Um den Konflikt zu beenden, bräuchte es laut Kilo ein Projekt, das alle einbinden kann, um auch konfessionelle Gewalt und Chaos nach Assads Sturz zu verhindern.

Im Artikel „Taking Syria back from the extremists“ für die Washington Post schildert Mohammed Alaa Ghanem kürzliche Eindrücke aus Aleppo und Nordsyrien. Zu seinem Erstaunen habe er ein sehr professionelles ziviles System der Lokalregierung in Aleppo vorgefunden, wo 75% der Stadt von der Opposition kontrolliert werden. 12 Komitees kümmern sich um infrastrukturelle Belange. Dagegen hat die FSA in der Stadt sehr schlechte Ressourcen, nicht nur was Munition und Waffen angeht. Finanzielle Mittel hat allerdings die Jabhat al-Nusra mehr als genug. Daher versucht al-Nusra, Kräfte der FSA abzuwerben, was immer besser gelingt. So überlegt in Hassakeh ein moderater Kommandeur der FSA, gleich mit seiner ganzen Truppe überzulaufen – um seine Leute dennoch kontrollieren zu können. Laut Ghanem war es fatal von den USA, die al-Nusra als Terrororganisation einzustufen. Diese leiste wichtige Arbeit vor Ort – anders als die USA -, die zudem al-Nusra als einen Block betrachten. Jedoch schließen sich viele schlicht aus materiellem Zwang der Nusra an, vertreten aber nicht die Qaida-Ideologie. Ghanems Appell: Um den Extremisten entgegenzutreten, sollten die USA (und wohl auch andere Staaten) Geld und Mittel an lokale Komitees und Strukturen leiten und diese stärken. Nur so kann die Gesellschaft unterstützt werden und nicht als letztem Ausweg den Extremisten ins Netz gehen.


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